Feuernacht
aber jetzt war sie zum ersten Mal in der Rolle des Opfers. Sie hoffte, dass sie genug Charakterstärke besaß, um daraus zu lernen und beim nächsten Mal einem ihrer Kollegen beizustehen, anstatt den Mund zu halten und so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Doch tief im Inneren wusste sie, dass das eher unwahrscheinlich war.
Nach der Besprechung blieb sie alleine zurück und nahm das interne Telefonverzeichnis. Als sie schon kaum noch Hoffnung hatte, dass die Logopädin abnehmen würde, hörte sie eine dünne Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Nein, ich habe euch nicht vergessen, ich musste nur kurzfristig ins Kinderkrankenhaus und bin gerade erst zurück. Ich muss mir das noch mal genau ansehen und komme dann in einer halben Stunde bei euch vorbei.«
»Das wäre sehr gut. Wir müssen unbedingt wissen, ob die Patientin Schmerzen hat. Es ist sehr schwer, die Ursache ihrer Symptome zu diagnostizieren.«
»Oh, ich glaube nicht, dass ich euch dabei helfen kann. Ich muss ihr allerdings noch ein paar Fragen stellen, gestern wollte sie gar nicht darüber reden, wie sie sich fühlt. Aber ich kann es ja noch mal probieren.«
»Was hat sie denn sonst gesagt?« Die Krankenschwester wollte so viel wie möglich wissen, falls sie nach dem Telefongespräch erneut verhört würde.
»Wenn ich sie richtig verstanden habe, hat sie Angst. Ich habe aber nicht richtig rausgekriegt, warum und wovor. Deshalb mache ich gleich noch mal einen Versuch. Das ist ein sehr primitives Kommunikationsmittel, wobei sie besser dran ist als viele andere, weil sie lesen und buchstabieren kann. Aber es ist sehr zeitintensiv, und man kommt leicht auf eine falsche Fährte. Sie war müde und ungeduldig, deshalb war es nicht so leicht. Hoffentlich klappt es nachher besser.«
»Wovor könnte sie denn Angst haben? Vor uns?«
»Ich weiß es nicht genau. Sie hat immer wieder das Wort
Sauerstoff
buchstabiert, keine Ahnung, was sie damit meint. Vielleicht fällt ihr das Atmen schwer, obwohl ich keine Anzeichen dafür bemerkt habe. Und als ich sie gebeten habe, das genauer zu erklären, hat sie immer wieder
Mann
und
böser Mann
buchstabiert. Keine Ahnung, wen sie damit meint. Da war noch mehr, was ich nicht richtig verstehe, ich brauche einfach noch ein bisschen Zeit, um mir über die Zusammenhänge klarzuwerden.«
»Kannst du mir denn sagen, worum es grundsätzlich geht?«
»Ich will da im Moment nichts Falsches sagen. Lass uns ausführlich darüber reden, wenn ich sie noch mal gesehen habe. Vielleicht ist das auch nur wirres Zeug, ein Traum oder Albtraum, für den es keine genauere Erklärung gibt. Ihr Herzschlag ist jedenfalls wesentlich schneller geworden, als es um diesen
Mann
ging. Es könnte also sein, dass die Symptome, von denen du gesprochen hast, auf ihren psychischen Zustand zurückzuführen sind.«
»Verstehe. Also dann bis gleich. Ich heiße Svava und bin bis vier Uhr hier.« Sie verabschiedeten sich voneinander, und die Krankenschwester starrte einen Moment lang das Telefon an, bevor sie aufstand. Vielleicht sollte sie kurz bei dem armen Mädchen vorbeischauen, sie hatte gehört, dass sie gerne Radio hörte, das würde sie vielleicht ablenken und ihr die Angst nehmen. Als sie dem Mädchen letztens den Kopfhörer aufgesetzt hatte, hatte sich ihr Herzschlag allerdings erhöht. Ob die ständigen Diskussionen auf allen Sendern über die Lage der Nation sie beunruhigten? Nein, wohl kaum. Es musste Zufall gewesen sein.
14 . KAPITEL
MONTAG ,
11 . JANUAR 2010
Jede Etage hätte mindestens für eine dreiköpfige Familie gereicht. Das Haus war so gigantisch, dass sein Stil gar nicht richtig zur Geltung kam – es sah so aus, als seien die Baupläne im falschen Maßstab ausgedruckt worden und das Haus eine aufgemotzte Ausgabe der ursprünglichen Idee geworden. Dasselbe galt allerdings auch für das Nachbarhaus. Die Häuser nahmen jeweils das gesamte Grundstück ein und hatten wegen der Nähe zu den Nachbarn an den Seiten keine Fenster. Entweder waren die Eigentümer wirklich gut betucht oder bekamen hohe Prozente bei den Betonbaufirmen. Dóra hatte erhebliche Schwierigkeiten gehabt, sich im nördlichen Grafarvogur-Viertel zurechtzufinden, denn sie hatte dort nie zu tun. Die meisten Einfahrten zu den riesigen Gebäuden waren leer; wahrscheinlich brauchte man zwei Gehälter, um diese Schlösser zu unterhalten. Auf vielen Zufahrtswegen standen Anhänger mit Motorschlitten und Wohnwagen in Wintermänteln aus Segeltuch, allerdings nicht bei
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