Feuernacht
Vielleicht kann man es so erklären, dass der Scanner in seinem Gehirn falsch eingestellt war. Alles, was er gesehen hat und zeichnen wollte, war spiegelverkehrt. Man weiß nicht, ob er das Leben so wahrgenommen hat, wobei das durchaus möglich ist. Menschen mit dieser Störung können zum Beispiel keine Uhr lesen.« Sie machte eine Handbewegung Richtung Tablett. »Bitte bedient euch, solange er heiß ist.«
Der Kaffee war heiß und angenehm stark. Dóra stellte die verzierte Tasse vorsichtig zurück auf die Untertasse – sie hatte sich zu viel eingeschenkt und Angst zu kleckern. »Hat er viel gezeichnet?«
»Wenn man ihm Papier und Stift hingelegt hat, hat er sofort angefangen zu zeichnen. Wie gesagt, die Bilder waren in seinem Kopf schon fertig, und er hat immer gleich losgelegt. Da er nicht gesprochen hat, hat er nie nach dem Zeichenblock gefragt. Er hätte das auch auf andere Weise signalisieren können, aber das hat er nie gemacht. Tryggvi hat nie um etwas gebeten, noch nicht mal um Wasser, wenn er Durst hatte. Für ihn ist das Leben einfach passiert, er hat nie versucht, es zu beeinflussen. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie sich das anfühlt, aber ich kann es nicht nachempfinden. Leider. Es wäre gut gewesen, ihn besser verstehen zu können. Er hatte sämtliche Voraussetzungen, um all das zu tun, was wir für selbstverständlich halten, sein Sprachzentrum war normal, und sein Gehirn war gesund. Das haben die vielen Schichtaufnahmen und Untersuchungen, die er durchgemacht hat, gezeigt. Es hat nur irgendetwas Undefinierbares gefehlt, bestimmte Verknüpfungen im Gehirn. Mir wurde gesagt, ich soll es mir wie einen elektrischen Kreislauf vorstellen, der nicht angeschlossen ist. Er funktioniert nicht, aber wenn die Verbindung hergestellt wird, kommt alles in Gang.« Fanndís hob die Hand ans Ohr und knetete es. »Ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass das eines Tages geschehen könnte.« Sie lächelte nervös und schaute aus dem Fenster. Offenbar wollte sie die Zweifel in den Augen ihrer Gäste nicht sehen.
Aus Rücksicht fragte Dóra nicht weiter nach der Krankheit des Jungen, sie kannte sich mit Autismus nicht gut aus und hatte gehört, dass man nur in seltenen Ausnahmefällen Heilungschancen hatte. »Auf dem Bild hat er eine schreiende Person gemalt. Weißt du, ob das seine Erlebnisse im Heim darstellen sollte? Ich habe dich ja eben schon gefragt, ob sich die Bewohner irgendwie nicht wohl gefühlt haben, und vielleicht war das ja Tryggvis Art, das zu beschreiben. Ich komme darauf zurück, weil du zweifellos diejenige bist, die außer den Angestellten am meisten Zeit im Heim verbracht hat. Die Mitarbeiter würden mir bestimmt nichts davon erzählen, wenn die Versorgung dort in irgendeiner Form mangelhaft war.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wie gesagt, Tryggvi kam nicht gut mit Veränderungen klar, aber das ist typisch für Autisten. Da die Einrichtung erst relativ kurz in Betrieb war, lässt sich nicht sagen, wie sich sein Zustand über einen längeren Zeitraum entwickelt hätte. Aber man muss immer bedenken, dass das Heim an sich nicht der Grund für sein Unwohlsein war, sondern seine Behinderung und die Anpassungsschwierigkeiten, die damit einhergehen. Natürlich habe ich die anderen Bewohner ein bisschen kennengelernt, es schien immer auf und ab zu gehen. Im Großen und Ganzen würde ich sagen, dass es den körperlich Behinderten besser ging als den geistig Behinderten, aber das ist vielleicht nicht überraschend.«
»Dir sind also keine Schreie oder so was aufgefallen, die darauf hindeuten, dass die Versorgung zu wünschen übrig ließ?«
»Nein. Aber natürlich hat man Schreie, Weinen und so was gehört. Den Bewohnern ging es nicht immer gut, und man wusste oft nicht, warum. Sie haben beispielsweise oft geklagt, wenn man ihnen geholfen hat, weil das für einen kurzen Moment unangenehm war. Die Krankengymnastik ist anstrengend und kann auch schon mal schmerzhaft sein. Ich habe das am eigenen Leib erfahren, als ich mich mal an der Schulter verletzt habe, aber ich konnte mich bei den Übungen eben besser beherrschen.« Sie lächelte die beiden an. »Den Heimbewohnern ging es wegen der Mitarbeiter bestimmt nicht schlechter, im Gegenteil, sie haben, so gut sie konnten, versucht, ihnen das Leben zu erleichtern. Das war natürlich nicht immer möglich, wenn man Schmerzen hat, helfen auch Medikamente oder liebevolle Betreuung nicht immer. Solche Schmerzen lassen sich schließlich
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