Feuernacht
und selbstlos einen schlechtbezahlten Job gemacht haben. Ich sehe keinen wirklichen Sinn darin, jedes Detail unter die Lupe zu nehmen, nur um irgendwas zu finden, das möglicherweise besser hätte laufen können.«
»Das möchte ich auch gar nicht.« Fanndís war eine wesentlich schwierigere Gesprächspartnerin als ihr Mann. Sie war sofort in Abwehrhaltung gegangen, und die würden sie nur durchbrechen können, wenn Dóra ihre Taktik änderte. »Dein Mann hat mir heute Morgen ein Foto von deinem Sohn gezeigt, er war wirklich ein sehr gutaussehender junger Mann.«
»Ja, das war er.« Fanndís ließ ihren Blick zu dem Familienfoto schweifen, das ihr am nächsten war. »Schon als Neugeborener hat er sich von den anderen Kindern auf der Säuglingsstation unterschieden. Er hatte viele Haare und war sehr hübsch.«
»Es muss ein großer Schock gewesen sein, als sich herausgestellt hat, dass er Autist ist.«
»Ja und nein. Es gab von Anfang an gewisse Anzeichen, die man einfach verdrängt hat. Tief im Inneren wussten wir, dass etwas nicht stimmte, aber wir haben es uns erst viel später eingestanden.« Die Frau starrte beim Sprechen das Foto ihres Sohnes an. »Als Baby hat er mir nie in die Augen geschaut, noch nicht mal, wenn ich ihn gestillt habe. Das war das Erste, was mir aufgefallen ist, obwohl er mein erstes Kind war und ich nicht viel über die Verhaltensweisen von Babys wusste. Außerdem hat er nur sehr selten geweint, aber wir haben ihn einfach für einen kleinen Engel gehalten. Später wurden die Anzeichen auffälliger, und mit zehn Monaten war nicht mehr zu übersehen, dass mit Tryggvi etwas nicht stimmte. Er hat nicht geplappert, und wenn man ihn auf den Arm genommen hat, war er ganz steif. Er mochte keine Berührungen, hat nicht versucht zu sprechen und nur gegessen, wenn das Essen immer genau an derselben Stelle stand. Der Teller musste exakt vor ihm an der Tischkante stehen und sein Becher und sein Löffel immer an derselben Stelle sein. Mir war nie klar, warum es genau so sein musste. Vielleicht habe ich den Tisch so gedeckt, als er zum ersten Mal versucht hat, alleine zu essen. Alles musste immer haargenau gleich sein, immer. Veränderungen und neue Dinge hat er sehr schlecht verkraftet und war oft verrückt vor Angst, wenn etwas Überraschendes passiert ist. Sein Leben war nicht leicht.«
»Wie hat er sich denn in der Wohngruppe zurechtgefunden? Davor hat er doch immer zu Hause gewohnt, oder?«
»Es ist nicht reibungslos gelaufen, war aber schon viel besser, als es zu dieser Katastrophe kam. Die vielen Veränderungen haben ihn verwirrt, und am Anfang hatte er ziemliche Probleme. Zu der Zeit waren wir ständig da, um ihm dabei zu helfen, sich einzugewöhnen. Niemand kannte ihn so gut wie wir.« Die Frau senkte den Blick und fingerte an ihrer Halskette herum. Sie schob sie in die Mitte der Brust und schien sich danach besser zu fühlen. »Tryggvi war bei uns, bis er zwanzig war. Ich habe mich den ganzen Tag um ihn gekümmert, oder er war bei der Therapie, da habe ich ihn immer hingefahren und wieder abgeholt. Als ihm ein Platz in der Wohngruppe angeboten wurde, haben wir gehofft, es wäre förderlich für seine Entwicklung. Nicht, weil wir aufgegeben oder uns nicht zugetraut hätten, ihn weiter zu Hause zu behalten, sondern weil wir dachten, dass er sich bei uns nicht mehr weiterentwickeln könnte und dass diese Veränderung weitere Fortschritte bringen würde.« Sie schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: »Niemand hat damit gerechnet, dass es so enden würde.«
»Hat er Fortschritte gemacht? Vor dem Brand, meine ich.«
Fanndís schien die Frage zu überraschen, obwohl sie so harmlos war. »Nein, aber es ist ja auch nur ein halbes Jahr zwischen seinem Einzug und dem Brand vergangen.«
Dóra freute sich insgeheim, dass das Gespräch so flüssig lief, und fragte weiter: »Hat er im Heim eine besondere Therapie bekommen? Ich habe auf der Mitarbeiterliste gesehen, dass es Heil- und Entwicklungspädagogen gab.«
»Ja, der Tagesablauf war gut zusammengestellt, nur ein bisschen altmodisch für meinen Geschmack, obwohl die Leiterin sehr offen für Neuerungen war. Im Ausland gibt es so viele neue Ansätze bei der Therapie von Autisten mit großartigen Erfolgen, aber hier kann man das nicht ausprobieren wegen irgendwelcher Vorbehalte, die ich nicht verstehe. Ich will nicht undankbar sein, es war schon alles gut organisiert, aber ich hätte mir bei einer so modernen Einrichtung etwas mehr Innovationen
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