Feuerprinz
Lin hatte nicht vor, ihr mehr zu verraten. »Bleib in der Nähe der Mädchen, wenn sie morgen ihren schwersten Gang gehen müssen. Lass sie nicht alleine.«
Jevanas Stimme wurde wieder weich. »Das verspreche ich dir.«
Sie drückten sich zum Abschied die Hände, dann lauschte Lin Jevanas sich entfernenden Schritten – ein letztes Mal. Sie wusste nicht, was der nächste Morgen bringen oder ob sie Jevana noch einmal wiedersehen würde.
Müde ging sie zu Salas Statue und sah der Göttin ins steinerne Gesicht. Die Flammen des Feuerbeckens leuchteten in warmem Orange und flackerndem Gelb.
Meide das Feuer, ruf es nicht herbei!
, erklangen mahnend die Worte der Waldfrau in ihrem Kopf; aber Lin wusste, dass es für sie kein Entkommen mehr vor dem Feuer gab.
Jevana stand in der ersten Reihe um den Opferkreis und starrte hinauf in den morgengrauen Himmel. Es fiel ihr schwer, doch sie hatte es Lin versprochen. Allein Salas Tränen schützten sie vor dem Schicksal, das den anderen Mädchen bevorstand. Bald würde die Sonne aufgehen. Jede einzelne der Priesterinnen hatte gebadet und sich in ein weißes Gewand gekleidet. Ihre Blicke, als sie noch im Fackelschein in den Opferkreis vor dem Bluttempel geführt worden waren, hatten ihre Angst verraten, auch wenn sie gefasst und aufgeräumt wirkten. Nun standen sie hier und warteten. Sogar Suragon war erschienen und hielt seine Silberpeitsche wie eine Warnung in der Hand – Flucht war zwecklos!
Der neue Tempel des Blutgottes überschattete den Opferkreis und die versammelte Menge bedrohlich und wartete darauf, mit frischem Blut geweiht zu werden.
Braams Vater, mittlerweile Elvens erster Gefolgsmann und frisch ernannter Opferpriester des Blutgottes, stand inmitten der Priesterinnen und drehte gedankenverloren einen dreischneidigen Dolch hinter seinem Rücken. Seine Klingenfassung war mit dem aus Rotmetall gehämmerten Kopf eines Schjacks verziert, aus dessen weit aufgerissenem Maul die etwa unterarmlange Silberklinge herausragte.
Jevana schüttelte sich beim Anblick des Opferdolches und dankte Sala dafür, dass die Mädchen ihn noch nicht entdeckt hatten. Elven, so viel stand für Jevana fest, hatte einen neuen Schlächter und Blutpriester gefunden.
Auf der linken Seite des Opferkreises standen Elvens Greife, angetan in ihrem Silberschmuck, abwartend und aufmerksam; auf der rechten Seite die engilianischen Männer aus Elvens Gefolge. Jevana warf einen unauffälligen Blick auf diejenigen, die sich unter sie gemischt hatten, um sich gegen Elven aufzulehnen – ein klägliches Häuflein, wie nun auch sie einsehen musste.
Sie hatten sich einzeln oder zu zweit unter Elvens Gefolge verteilt, anstatt auf einem Fleck zu stehen und von einer Seite anzugreifen. Jevana spürte, wie ihr Mut immer mehr sank. Es waren so wenige, dass ihr Überraschungsangriff schon niedergeschlagen würde, bevor er überhaupt begonnen hätte. Aber alle waren entschlossen zu kämpfen.
Ihr fiel auf, dass Frauen und Kinder fehlten – sie blieben in ihren Häusern wegen der Greife. Dieser Tage war man als Frau nicht sicher in Engil. Unter all den Wartenden fiel das Fehlen eines Einzelnen besonders auf: Elven, König und Verantwortlicher dieses Schlachtfestes, war nicht erschienen. Ein Blick zur verschlossenenTempelpforte trieb Jevana einen Schauer über den Rücken. Sie spürte, dass Elven im Innern des Tempels wartete.
Ohne Vorwarnung brach der erste Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und fiel wie ein Zeichen in die Mitte des Opferkreises, genau vor die Füße des neuen Opferpriesters. Die Mädchen erschraken ebenso wie Jevana; sogar der Taluk schien überrumpelt. Durch die Menge ging ein Raunen. Unsicher sah Elvens neuer Blutpriester hinüber zum Tempel, als erwarte er, dass sich die Tore öffneten und Elven doch noch im letzten Augenblick die steinerne Treppe herunterschritt.
Doch nichts geschah. Schließlich straffte er die Schultern und nickte den Greifen zu, bevor er sich an die wartenden Engilianer wandte und mit lauter Stimme zu sprechen begann. »Heute wird eine neue Zeit beginnen, und wir wollen sie mit einem angemessenen Opfer begrüßen.«
Jevana vernahm den hohen Schrei, der vom Himmel auf sie herabzufallen schien, als Erste – vielleicht, weil alle anderen zu gebannt auf den Opferdolch starrten, den der Schlächter hinter seinem Rücken hervorzog und feierlich in die Höhe hielt. Ein zweiter Schrei, noch höher und zorniger als der erste, folgte, und dieses Mal vernahmen ihn auch die
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