Feuerprinz
selbst Fragen zu stellen, während sie Schritt für Schritt die Feuerwüste durchquerte. Wie hatten ihre Räume im Palast ausgesehen? Wie war der Name ihrer ersten Dienerin gewesen? Was war ihre Lieblingsspeise? Doch je weiter Lin gelaufen war und in die blutrote Sonne gestarrt hatte, desto tiefer hatte sich ein dunkler Nebel des Vergessens über ihre Erinnerung gebreitet. Wie war der Name des Mannes gewesen, den sie geliebt hatte? Es hatte einen gegeben, da war sie sich sicher. Doch weder fiel ihr sein Name ein, noch gab es ein Gesicht in ihrer Erinnerung. Irgendwann waren nur noch zwei Fragen durch ihren leeren Verstand gewandert. Warum war sie hier, und woher kam sie?
Am Ende ihrer Reise war es nur noch ein Name, der sie mit ihrer Vergangenheit verband – Lin! Doch sie hatte keine Ahnung, wer diese Lin gewesen oder wohin sie gegangen war …
Die Göttin Sala blieb stehen und versuchte, die Fremde mit dem Namen Lin in sich ausfindig zu machen. Doch die andere entwand sich ihrem Zugriff und wich in den dunkelsten Winkel ihres Verstandes zurück. Die Göttin betrachtete ihre honiggoldenen Hände und befühlte das schwarze Lockenhaar auf ihrem Kopf. Eindeutig war dieser Körper der einer Menschenfrau. Sie konntesich daran erinnern, dass sie vor sehr langer Zeit bei den Menschen Zuflucht gesucht und sogar einem ihrer Könige zwei Töchter geboren hatte. Das hatte Unheil gebracht, denn ihr Gefährte war eifersüchtig.
Und nun war sie zurückgekehrt in das verhasste Reich, das sie niemals mehr hatte betreten wollen, und zu jenem düsteren Gefährten, dem sie gehofft hatte für immer entflohen zu sein. Sie wollte umkehren, doch die andere mahnte sie, dass sie das nicht durfte und dass ihr dunkler Gefährte nur von den Menschen ablassen würde, wenn sie dieses Opfer brachte. Es war die Frau mit dem Namen Lin, die zu ihr sprach; und die Göttin wusste, dass sie die Wahrheit sagte, denn sie war ein Teil von ihr.
Also setzte sie ihren Weg fort. Vor ihr erstreckte sich der Horizont, an dessen Ende grelle Flammen an zwei brennenden Thronen emporzüngelten. Einer der Throne gehörte ihr, obwohl sie ihn nie gewollt hatte. Sie ging weiter, angezogen wie ein Falter von der todbringenden Flamme, als etwas ihren Fußknöchel packte. Wie von Fäden gehalten blieb sie stehen.
Aus dem Sand ragte ein einzelner Arm, fast nur noch Knochen und verkohltes Fleisch, und daran eine Hand, die sich fest um ihre Fessel gelegt hatte, als wolle sie verhindern, dass sie weiterging. Das dazugehörige Gesicht tauchte aus dem glühenden Sand auf – ebenso verbrannt wie alles andere an diesem Menschen. Die Göttin wusste, dieses hier war das Schlachtfeld ihres dunklen Gefährten, denn hier lagen die Gefallenen der vielen Kriege von Licht und Schatten.
»Geh nicht weiter, Göttin!«, krächzte eine Stimme, so rau wie Schleifstein. »Für dich haben wir gekämpft, für dich sind wir gestorben … Wenn du zu
ihm
gehst, sind alle unsere Qualen umsonst.«
Die Göttin befreite ihren Fuß sacht aus der Umklammerung derKnochenhand und zog die Brauen hoch. »Aber ich muss zu
ihm
gehen.«
Auf die weiteren Warnungen des Verbrannten hörte sie nicht. Die andere – Lin – verbot es ihr. Während sie weiterlief, gruben sich jedoch immer mehr Tote aus dem Sand und streckten ihr die schwarz verbrannten Arme entgegen. In einem ohrenbetäubenden Chor von Jammer riefen sie ihr zu, sie solle umkehren. »Geh fort, dreh um … kehre zurück in die Welt der Menschen, Göttin!« Sala ignorierte sie und schritt langsam weiter.
Die beiden Throne kamen immer näher. Die Göttin wusste, dass
er
sie bereits erwartete. Die Stimme der anderen wurde eindringlicher.
Du musst weitergehen – biete ihm unser Leben und unsere Gefolgschaft für das Leben von Engil und seinen Menschen.
Sala überlegte angestrengt, ob sie nicht eigentlich etwas ganz anderes gewollt hatte … sich verbergen vor
ihm
, sterblich werden, anstatt die Ewigkeit an
seiner
Seite zu verbringen.
Es ist nicht wichtig, was du willst oder was ich will … du musst es tun!
Die Stimme ließ weder Zweifel noch Widerspruch zu. Die Göttin konnte nicht anders, als ihr zu gehorchen – sie waren eins!
Sie erreichte das letzte Schlachtfeld vor den Thronen, auf dem hohe Flammen aus dem heißen Sand schlugen und gleich ewigen Lichtern an die zahllosen Opfer erinnerten. Hier war es viel unerträglicher als auf dem Feld davor, denn hier mussten all jene ihre Ewigkeit verbringen, die den Opfertod erlitten hatten. Erneut
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