Feuerprinz
träumte auch Vay den Traum von der großen Liebe. Lin war für sie der Beweis dafür, dass Märchen wahr werden konnten, und Lin fand, dass es zu früh war, ihr diesen Glauben zu nehmen.
Sie ließ sich von Vay in ein trockenes Tuch wickeln. Dann sah sie sich in ihren Räumen um … in jenen Räumen, die ihr fortan nicht mehr Schutz und Rückzug bieten konnten, wenn ihr danach war. Als ihr Gefährte hatte Elven das Recht, zu ihr zu kommen, wann immer er es wünschte.
Ihr Ruhelager aus poliertem Bellockholz mit Intarsien aus Greifensilber … Lin hatte es noch nie mit jemandem geteilt, auch wenn sie sich oft vorgestellt hatte, es mit Degan zu teilen. Nun würde es Elven sein. Sie fröstelte, obwohl es im Raum angenehm warm war.
Vay und die anderen Dienerinnen hatten weiße Blüten auf das Laken gestreut, neue Webteppiche auf den Steinfliesen ausgebreitet und die Feuerbecken angeheizt.
Fürchte das Feuer … ruf es nicht herbei …
Schon wieder hallten die Worte der Waldfrau in ihrem Kopf. Es schien fast so, als sei es unmöglich, ihrer Prophezeiung zu entkommen.
Lin schlang die Arme um ihren Körper, als sie sich mit untergeschlagenen Beinen auf einen der Webteppiche setzte und sich von Vay das Haar kämmen ließ. Vor sich hin summend, rieb ihre Dienerin eine Handvoll Öl der seltenen grünen Orchidee in die einzelnen Strähnen, was sie angenehm duften ließ und zum Glänzen brachte. Dann hielt sie ihr eine polierte Scheibe aus Rotmetall vor das Gesicht. »Du siehst wunderschön aus. Dein Gefährte kann sich glücklich schätzen.« In Vays Stimme klang tiefe Sehnsucht nach einem eigenen Gefährten mit.
»Ich denke, das tut er«, antwortete Lin leise und schob dann Vays Hand mit der Rotmetallscheibe zur Seite. Sie mochte ihr Gesicht nicht ansehen, weil sie fürchtete, dass sie die Lügen darin entdeckenwürde, auf denen ihre Verbindung zu Elven gebaut war. Stattdessen schickte sie Vay nach zwei Bechern und einem Krug süßen Weins. Als sie die gewünschten Dinge gebracht hatte, entließ Lin ihre Dienerin für den Rest des Abends. Nun konnte sie nur noch eines tun – darauf warten, dass Elven zu ihr kam …
Sie versuchte sich zu entspannen und wurde doch immer nervöser. Ihre Blicke schweiften unruhig im Raum umher. Vor der Fensteröffnung bewegte sich etwas zwischen den Bäumen. Lin hatte es nur kurz aus den Augenwinkeln gesehen. Sie stand auf, ging hinüber und spähte hinaus in den ausklingenden Abend. Auf einen heimlichen Zuschauer konnte sie nun wirklich verzichten. Die untergehende Sonne malte Schlieren von Purpur und einem verwaschenen Orange in den azurblauen Sommerhimmel. Die Blätter der Bäume wiegten sich unter leisem Rauschen, und der Wind streifte ihr Gesicht.
Sie musste sich geirrt haben. Ihre Anspannung wich, so dass sie die Augen schloss und die klare Luft einatmete. Wenn sie Flügel wie die Vögel besäße, so hätte sie einfach fortfliegen können in die Freiheit … fort aus Engil, fort von den besorgten Blicken ihrer Eltern … fort von Elven und ihren Verpflichtungen ihm gegenüber. Als Lin die Augen wieder öffnete, blitzte etwas zwischen den Ästen des Baumes auf … es war weiß und groß und besaß Federn … Flügel? Sie war sich sicher, eine Schwinge erkannt zu haben.
Lin beugte sich aus der Fensteröffnung und suchte nach dem Störenfried. Bestimmt hatten sich Kinder in den Bäumen versteckt, um ihr einen Streich zu spielen. Ihr Nacken kribbelte. Sie spürte nun sehr deutlich, dass sie beobachtet wurde. Ein leichter Windstoß bog die Blätter des Baumes ein wenig auseinander. Lin entfuhr ein leiser Schrei. Sie hatte sich nicht geirrt … Haare, hüftlang und ebenso weiß wie die Schwingen. Zwei blaue Augenbeobachteten sie aus dem Geäst des Baumes heraus. Nur einen Arm hätte sie ausstrecken müssen, um die Federn der Schwinge zu berühren oder das weiße Haar und die makellose Haut … und den betörenden Duft einzuatmen, der jede Frau ihre Vorsicht vergessen ließ. Lin sprang von der Fensteröffnung zurück … dort draußen in den Ästen des Baumes saß ein Greif! Ein gefühlloses Wesen, das dem dunklen Gott diente. Es entführte Frauen und schwängerte sie, um seine Brut zu vermehren … und aus irgendeinem Grund lauerte dieser Greif nun vor ihrer Fensteröffnung!
Ein erneuter Windstoß ging durch das Geäst, so dass sie den schlanken und bis auf einen Schurz nackten Körper des Greifen sehen konnte.
Lin stolperte rückwärts in ihren Raum. Beinahe hätte sie eines der
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