Feuerprinz
…
Kurze Zeit später stand sie wieder vom Lager auf – sie konnte nicht mehr warten. Als Lin gerade den Riegel ihrer Tür lösen wollte, klopfte es. Sie erschrak so sehr, dass sie nicht antwortete. Schon rüttelte jemand ungeduldig von außen an der Tür, offensichtlich nicht gewohnt, ausgeschlossen zu werden. Lin lehnte sich mit klopfendem Herzen an die verschlossene Tür. Was sollte sie tun? Öffnen? Fragen, wer dort war? Und wenn es nun Elven war! Das Rütteln wurde noch ungeduldiger. Zitternd legte sie ihre Hand auf das Holz, als könne sie spüren, wer davor stand. Dann plötzlich fiel die Angst von ihr ab. Elven besaß eine fast unmenschliche Kraft. Er hätte den schwachen Hakenriegel längst aus der Verankerung gerissen. Das Rütteln kam von einer Frauenhand!
Mutter …
Lin hob den Riegel an und öffnete die Tür einen Spalt weit. Sie blickte in das verärgerte Gesicht Vays, die mit wirrem Haar dastand. Ihre Dienerin trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
Lin tat, als hätte sie geschlafen. »Was ist los?«
Vay legte die Arme um den Oberkörper, um zu zeigen, dass sie fror und dieser Umstand allein Lins Schuld war. »Du musst mitkommen. Es ist etwas passiert. Warum hast du deine Tür verschlossen? Ich musste hier draußen in der Kälte stehen.«
Lin blieb ihr eine Antwort schuldig und fragte stattdessen: »Was ist denn so wichtig, dass du nachts an meine Tür hämmerst?« Sie hoffte darauf, dass Vay ihr sagen würde, dass Elven verschwunden wäre, unauffindbar, seine Räume leer …
Doch stattdessen gelang es Vay kaum, ihren Neid zu verbergen. »Du bist die Königin von Engil … ist das Grund genug?«
Lin spürte, wie ihr schwindlig wurde. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, und ihre Hände wurden klamm. »Wie … wie meinst du das?«
Vay kannte kein Erbarmen. Ungerührt zuckte sie mit den Schultern. »Deine Eltern sind tot. Die Diener haben sie auf ihren Lagern gefunden, als sie ihnen ihren Schlaftrunk bringen wollten.« Mit einem Funkeln in den Augen flüsterte Vay: »Lang lebe Lin, Königin von Engil … und Elven, König von Engil!«
Ihre Dienerinnen hatten Ilanas Körper neben dem von Tojar auf seiner Liege aufgebahrt. Die Haut ihrer Eltern war aschfahl und fühlte sich kalt an. Sie mussten bereits einige Zeit tot sein. Lin versuchte zu weinen, doch ihr Entsetzen war zu groß für Tränen. Erst am Vorabend hatte sie noch mit Ilana gesprochen … da war sie voller Tatkraft und Leben gewesen. Jetzt lag sie mit geschlossenen Augen da. Ihre Mutter trug noch immer das mattgrüne Gewand, in das sie ihr geholfen hatte, ihr Vater seinen grausilbernen Umhang über den Nachtkleidern. Sein weißes Haar wirkte fein wie Spinnweben. Die Diener hatten es eilig gehabt, die Toten aufzubahren. Die Hitze der Tage würde es nicht erlauben, sie lange dem reinigenden Feuer Salas vorzuenthalten.
Lin stand vor dem Totenlager ihrer Eltern und konnte weder sprechen noch trauern … jede Faser ihres Körpers und ihrer Seele schien erstarrt, und sie fühlte sich vollkommen leer.
Ilana … Tojar … Mutter … Vater …
Dienerinnen brachten Feuerschalen und stellten sie an das Fußende der Liege, damit ihre Eltern Licht auf dem Weg zu Sala hätten. Sie verbeugten sich langsam vor Lin – einerseits um ihr Mitgefühl auszudrücken, andererseits da sie nun ihre Königin war. Dann verließen sie auf leisen Sohlen den Raum. Lin blieb alleine zurück in einer Stille, die nie wieder durch Ilanas Lachen oder Tojars dunkle Stimme durchbrochen werden würde … nie wieder!
Hinter ihr öffnete sich erneut die Tür, und jemand trat ein. Wieder eine Dienerin, die irgendetwas brachte, was ihren Eltern nicht mehr helfen würde. Warum hatte sie auf ihre Mutter gehört? Warum hatte sie sich nicht durchgesetzt und sie von ihrem wahnwitzigen Plan abgehalten? Lin machte sich Vorwürfe. Sie wusste, dass es Elven gewesen war! Er hatte ihre Eltern getötet, auch wenn ihre Körper keine Wunden aufwiesen.
Hände legten sich auf ihre Schultern – sie waren heiß. Fast meinte Lin, sie würden ihr durch den Stoff ihres Nachtgewandes die Haut verbrennen. Sie schloss die Augen, um es ertragen zu können.
»Lin … es tut mir sehr leid!«
Die Lüge besaß eine freundliche Stimme und einen Namen: Elven! Er war hier – natürlich war er das. Er war nun der König von Engil und sie seine Königin. Lin trat einen Schritt vor, so dass seine Hände von ihren Schultern glitten. Überraschenderweise blieb sie gefasst. »Ich weiß, dass du
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