Feuersang und Schattentraum (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
fressen wolle.
Er verstummte, als er Hanns erblickte. Dessen graue Augen musterten ihn genau, vielleicht sogar spöttisch, und nachdem er genug gesehen hatte, wanderte sein Blick zu Maria und blieb da einfach kleben. Es war kein Wunder, denn sie hatte sich anscheinend vorgenommen, standesgemäß in ihre Spiegelwelt zurückzukehren. Das Kunstwerk aus Haarsträhnen und Haarspangen auf ihrem Kopf machte der letzten Kaiserin alle Ehre und verlieh ihrer ansonsten zurückhaltenden Aufmachung eine besondere Anmut. Maria sah bildhübsch aus und genau das stellte der Herrscher von Fortinbrack gerade fest, wenn Gerald sich nicht täuschte. Nun ja, es war nicht verboten, so etwas festzustellen. Aber Gerald hätte es doch begrüßt, wenn Hanns woandershin geschaut hätte.
Maria selbst war bestens gelaunt. Ihre Augen leuchteten, da sie in ihr Reich zurückkehren durfte. Es hatte ihr gefehlt, das hatte sie Gerald gegenüber oft erwähnt. Natürlich war Vorsicht geboten, denn sie wussten nicht, was aus den feindlichen Streitkräften geworden war, die sie durch ihren Abzug in der Spiegelwelt eingeschlossen hatten. Die Schlacht war sechs Wochen her. Was hatten die Zeit und die Spiegelwelt mit den fremden Soldaten angestellt? Sie mussten es herausfinden.
Maria hielt ihre Hand in den Spiegel und ließ alle anderen vorausgehen. Sie stieg als Letzte durch den Spiegel und fand ihre Spiegelwelt im friedlichsten Zustand vor. Alles sah so aus wie vor der Schlacht, nur dass einige Dinge eindeutig repariert, ausgetauscht oder erneuert worden waren. Maria, Lisandra und Haul blieben am Spiegel zurück, so war es verabredet worden, während Gerald, gefolgt von Hanns und Grohann, die Spiegelwelt auskundschaftete.
Sie fanden nichts. Zumindest nichts, was auf die Anwesenheit der Soldaten schließen ließ. Ansonsten fand Gerald eine ganze Menge. Sein Herz wurde mit jedem Raum, den er durchschritt, leichter, und all die Sorgen und trüben Gedanken, die ihn in den letzten Wochen geplagt hatten, lösten sich in Luft auf. Der Sommer kam zurück. Mochte er vorbei sein – das Gefühl, das er während dieses Sommers gehabt hatte, war wieder da!
Er hatte die Spiegelwelt vermisst. Es wurde ihm erst jetzt klar, als er aus den Fenstern schaute und die immer noch weiß blühenden Rosen erblickte, im ewigen Sonnenschein dieses rätselhaften Ortes. Er spürte wieder die Geborgenheit und den Frieden, die sich jedes Mal wie Balsam auf seine Seele gelegt hatten, wenn er aus der toten Welt zurückgekehrt war. Nichts war verloren, alles war noch da.
Von den feindlichen Soldaten fehlte allerdings jede Spur. Das war die einzige Neuigkeit, die sie Maria, Lisandra und Haul zu erzählen wussten, als sie zu ihnen zurückkamen.
„Es gefällt mir nicht“, sagte Grohann, „aber Hanns und ich sollten uns nun im Treppenhaus an die Arbeit machen. Lieber wäre es mir gewesen, wenn wir etwas über den Verbleib der Soldaten herausgefunden hätten.“
„Wir könnten ja jemanden fragen“, sagte Maria und fügte, ohne viel lauter zu werden, hinzu: „General, sind Sie hier?“
Das laute Klacken von Stiefelabsätzen auf dem Parkettboden, das für General Kreutz-Fortmann charakteristisch war, näherte sich wenige Augenblicke später und dann trat er auch schon durch die Flügeltür.
„Hoheit?“, fragte er und verbeugte sich kurz. „Ich bin sehr froh darüber, dass Ihr wieder wohlauf seid!“
„Danke, General. Wir haben hier ein paar Soldaten zurückgelassen. Sie wissen nicht zufällig, ob sie noch hier sind?“
„In der Gruft, Hoheit.“
„In der Gruft? Können Sie mich hinführen?“
General Kreutz-Fortmann nickte ergeben und machte sich sogleich auf den Weg. Maria und die anderen folgten ihm. Der General brachte sie in den Saal mit den großen Lüstern und von dort in den Garten. Eine Treppe, die vor sechs Wochen noch nicht da gewesen war, führte in die stille, kühle Tiefe einer Halle, deren Wände rundum mit Steintafeln bedeckt waren. Jede Steintafel trug das Relief eines Gesichts. Und jedes einzelne Gesicht berührte einen im Inneren, wenn man es betrachtete.
„Das sind sie?“, fragte Lisandra. „Das sind unsere Feinde?“
„Sie sehen nicht so aus, nicht wahr?“, meinte Haul. „Im Tod und ohne Waffen kann man sie von den eigenen Leuten nicht mehr unterscheiden.“
„Am Ende sind wir eben alle gleich“, stimmte Grohann ihm zu. „Man kann das nicht berücksichtigen, wenn man angegriffen wird. Aber an einem solchen Ort wird einem bewusst, wie
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