Feuersang und Schattentraum (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
und was Gerald sah, stimmte ihn erst mal hoffnungsvoll.
Da standen zwei schmächtige Männer, die Gerald höchstens bis an die Schulter reichten. Sie trugen die typische Kleidung von Flugwurmreitern aus Gorginster: Hosen aus Kamelleder, Wämser aus Schlangenhaut und um Kopf und Schultern Tücher geschlungen, sodass nur die Augen zu sehen waren. Solche Reiter waren gefährliche Gegner in der Luft, wenn sie auf ihren Flugwürmern ritten. Hier in der Spiegelwelt konnten sie diese Stärke nicht ausspielen.
Merkwürdig war nur, dass sich der Tigermann gar nicht an diese beiden Reiter zu wenden schien, sondern an jemanden, der hinter ihnen stand. Gerald schaute angestrengt in das Nichts zwischen der ersten Treppe und der Tür, die in die Räume des Schlosses führte. Diese Tür mussten er und Maria nehmen, um nach Sumpfloch zurückkehren zu können.
Erst sah Gerald gar nichts, doch dann vernahm er ein Flackern der Luft. Der Tigermann raunte ein Wort, die Tatzen arbeiteten. Gerald dämmerte, was hier passierte: Der Tigermann erteilte gar keine Befehle! Er strickte aus Handbewegungen und seiner Stimme eine Zauberformel, die dazu diente, das Unsichtbare zu beschwören. Umrisse zeichneten sich ab – und zwar die Umrisse einer Truppe aus Steppen-Ghulen. Nicht dass Gerald schon mal einen echten Steppen-Ghul gesehen hätte, doch nach allem, was er über Ghule wusste, musste es sich bei diesen riesigen Kerlen hier um die schattenhaften, doch mächtigen Geister handeln, die die Wüsten des Westens unsicher machten.
Gerald hatte genug gesehen. Er rannte wieder nach oben und wäre fast mit Maria zusammengestoßen, die aus dem dritten Stock nach unten gerannt kam. Er wurde schnell sichtbar, damit sie sah, dass sie geradewegs in ihn hineinlief, und bremste sie, indem er die Arme nach ihr ausstreckte. Sie stolperte, kämpfte mit dem Gleichgewicht und hielt sich an Geralds Arm fest, bis sie wieder festen Stand hatte.
„Danke! Wir …“
„Gibt es irgendwo noch einen Spiegel?“
„Nein! Nur im Schloss!“
„Und im alten Sumpfloch?“
„Kann sein, aber wir können nicht nach oben! Ich habe ganz viele Leute über mir gehört. Auf der Treppe!“
„Mist.“
„Wer ist da unten?“
„Ein Zauberer, Reiter, Ghule!“
Maria schaute Gerald bestürzt an. Es ereignete sich ein Moment der Stille und des Stillstands, in dem ihnen klar wurde, dass sie in der Falle saßen, und dann brach der Tumult los. Der Tigermann stieß einen Schrei aus, ein Angriffssignal, das alle Eindringlinge in Aktion versetzte. Sie kamen von oben und von unten, sodass Maria und Gerald nur ein Fluchtweg blieb: die Flure des zweiten Stockwerks. Einer führte nach links, einer nach rechts, doch aus Erfahrung wussten sie, dass beide Flure um zwei Ecken führten und sich irgendwann wieder trafen. Aus dem zweiten Stock gab es kein Entrinnen, es sei denn, man benutzte eine der Türen, die sich darin befanden.
„Augsburg!“, rief Gerald und packte Marias Hand.
Sie stürzten zusammen den Flur entlang in Richtung der Metalltür mit dem Fenster, durch die Gerald schon einmal in die Spiegelwelt gekommen war – die Tür, die zum Augsburger Hauptbahnhof führte. Zwei Bogenschützen tauchten an der nächsten Ecke auf und richteten ihre Pfeile auf Maria und Gerald. Sie schossen nicht, sie standen nur da und fassten ihre Ziele ins Auge. Sicher hatten sie den Befehl, das Leben der wertvollen Erdenkinder nicht zu gefährden, sondern sie unverletzt gefangen zu nehmen.
Gerald rannte ihnen entgegen, in der Zuversicht, dass es so wäre, und zerrte Maria, die nicht ganz so schnell rennen konnte, hinter sich her.
„Gerald, die Tür nach Augsburg ist abgeschlossen!“, rief Maria hinter ihm.
„Die kriegen wir schon auf.“
Ein lautes Knurren hinter ihnen verhieß nichts Gutes. Als Gerald sich umsah, erkannte er den Tigermann, der in dem schmalen Flur noch größer und furchterregender aussah als am Treppenabsatz. Er sprang in gewaltigen Sätzen auf sie zu, begleitet von fliegenden Schatten, die heiser wimmerten und pfiffen, wie Wüstenwind, der Sandkörner durch poröse Felsen presst.
Die Tür, die nach Augsburg führte, befand sich in unmittelbarer Nähe zu den Bogenschützen. Gerald wurde unsichtbar, doch nicht bis zur Unangreifbarkeit. Er musste handlungsfähig bleiben und seine magikalischen Instrumente benutzen, vor allem, um das Schloss der Tür zu sprengen. Er konnte nur hoffen, dass die Tür dann aufging. Wenn nicht …
„Pass auf!“, rief Maria, da die
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