Feuerscherben
unter ihrem Make-up war aschfahl geworden. Verblüfft stellte Ben fest, dass Evelyn Campbell, dieser angebliche Eisblock, eine äußerst gefühlvolle Frau war.
»Evelyn«, sagte er leise. »Wenn dieses Gespräch Sie zu sehr aufregt … «
»Die Papiere«, sagte sie durch die zusammengepressten Zähne. »In dem verunglückten Wagen müssen Papiere gewesen sein. Wie ist die Überlebende an die Unterlagen gekommen?«
»Das weiß ich nicht«, gab Ben zu. »Aber die beiden lebten in einer Wohnung, und Claire war äußerst klug.« Er musste daran denken, welch ein glücklicher Zufall es gewesen war, dass Dianna sich in den Finger geschnitten hatte. »Vielleicht hat Dianna morgens die falsche Handtasche ergriffen, als sie aus dem Haus ging. So etwas kommt vor.«
»Wie Sie es darstellen, passen die Einzelheiten gut zusammen«, sagte Evelyn gereizt. »Trotzdem macht das fertige Puzzle keinen Sinn. Aus welchem Grund hätte Claire als Dianna Mason weiterleben wollen? Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt unserer Unterhaltung.«
Die Lösung des Rätsels kam Ben blitzartig. »Nein, das sind wir nicht«, erklärte er aufgeregt. »Ganz und gar nicht. Begreifen Sie nicht? Claire fürchtete, der Unfall mit dem Wagen wäre ein weiterer Versuch gewesen, sie zu ermorden. Deshalb sorgte sie dafür, dass der Mörder sein Opfer bekam. Sie lieferte ihm Claire Campbell aus. Sie identifizierte den entstellten Leichnam als Claire Campbell und lebte als Dianna Mason weiter.«
Evelyn schwieg eine ganze Weile. »Ich möchte diese junge Frau kennenlernen«, sagte sie endlich.
Ben holte triumphierend Luft. »Das werden Sie«, antwortete er. »Sehr bald sogar. Aber zunächst müssen wir absolut sicher sein, dass meine Vermutungen zutreffen und es sich bei der Frau, die sich Dianna Mason nennt, wirklich um Claire Campbell handelt.«
»Ist das nicht ein Widerspruch in sich, Ben? Bevor ich die junge Frau nicht gesehen habe, können Sie unmöglich wissen, wer sie ist.«
»Das ist nicht ganz korrekt«, verbesserte Ben sie. »Selbst wenn Sie die Frau sehen und überzeugt sind, dass es sich um Ihre Tochter handelt, ist es kein unumstößlicher Beweis. Ich bezweifle, dass irgendein Gericht in diesem Land Ihr Wort akzeptieren würde, nachdem ein Totenschein von Claire Campbell vorliegt. Abgesehen davon gibt es keinen Grund, weshalb Sie sich solch einer seelischen Belastung aussetzen sollten. Ich habe eine wesentlich bessere Möglichkeit, die Wahrheit über Dianna Mason herauszufinden.« Er öffnete den Reißverschluss seiner Aktentasche und holte die Plastikbeutel mit den blutigen Papiertüchern hervor. »Dies sind Proben von Diannas Blut«, sagte er und sprach viel zu schnell. Doch er fürchtete, Evelyn könnte ihn aus demselben unerfindlichen Grund zurückweisen wie schon einmal. »Wenn Sie so nett wären, sich etwas Blut abnehmen zu lassen, würde ich die Proben an ein angesehenes Genlabor senden. Dort würden wir eine schlüssige Antwort über die Identität von Dianna Mason erhalten. Soweit mir bekannt ist, lässt sich die Elternschaft mit mehr als neunundneunzigprozentiger Sicherheit nachweisen.«
Inständig hoffte Ben, dass Evelyn zustimmen würde, und wappnete sich gleichzeitig gegen ihre Weigerung. Doch sie stellte ihm eine Frage, auf die er nicht gefasst war.
»Diese Frau – diese Dianna … Hat Sie Ihnen die Blutproben freiwillig gegeben?«
Im ersten Moment wollte Ben lügen. Dann gewann seine angeborene Aufrichtigkeit die Oberhand. »Nein«, sagte er und überlegte, ob sich die Wahrheit in diesem Fall fatal auf seine Pläne auswirken konnte. »Sie schnitt sich mit einer Glasscherbe in den Finger. Ich habe die Papiertücher ohne ihr Wissen eingesteckt.« Er konnte nicht anders und fügte hinzu: »Sie wird furchtbar wütend sein, wenn sie herausfindet, was ich getan habe.«
Evelyn brach eine Nelke ab und roch daran. »Es ist merkwürdig«, sagte sie. »Ich habe Claire mehr geliebt als jeden anderen Menschen auf der Welt. Sie war der Mittelpunkt meines Lebens. Und sie ist wahrscheinlich die Einzige in unserer Familie, die das nie erkannt hat.«
Ben fragte sich, was dieses Geständnis mit seiner Bitte um eine Blutprobe zu tun hatte. Doch er wagte nicht zu fragen. Evelyn hatte sich wieder abgewandt und blickte hinauf zum dunklen Himmel über Manhattan. Sie rührte sich nicht und schien kaum noch zu atmen. Beinahe eine volle Minute beobachtete Ben ihre straffen Schultern. Dann drehte sie sich plötzlich um und sah ihn fest an.
»Ich
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