Feuerscherben
ihrer Probleme voll zu machen, war sie nicht einmal mehr sicher, ob sie Andrew wirklich wegen Mord vor Gericht bringen wollte. Mit achtzehn hatte es für sie nur Schwarz oder Weiß gegeben. Inzwischen bestanden ihre moralischen Wertvorstellungen aus unzähligen Grautönen.
Andrews Verhaftung und Verurteilung würde vielen Menschen wehtun, auch Evelyn und Roger, die nichts Böses getan hatten. Andererseits mussten die Wähler in Florida wissen, dass einer ihrer Kandidaten für den Gouverneursposten ein Mörder war. Sie, Dianna, hatte gehofft, dass Andrew schon bei den Vorwahlen scheiterte. Aber er war als strahlender Sieger daraus hervorgegangen. Und alle Umfragen deuteten darauf hin, dass er bei den Wahlen im November einen Erdrutschsieg erringen würde. Hatte sie nicht die Pflicht, den Wählern zu sagen, was sie wusste?
Die Glocke läutete, als sie gerade durch die Diele in ihr Schlafzimmer gehen wollte. Das kann nur Eric mit dem Gravierrädchen sein, überlegte sie. Ihre Laune besserte sich unmerklich, und sie lief zur Tür. Vorsichtshalber spähte sie durch das Guckloch – und entdeckte Andrew Campbell.
Ich muss ihn mit meinen Gedanken herbeigeschworen haben, dachte Dianna kläglich. Wie gern hätte sie den Mann aus vollem Herzen verabscheut. Aber sie schaffte es einfach nicht, sämtliche Gefühle auf ein Ziel zu konzentrieren. Verzweifelt beobachtete sie, wie Andrew vor ihrem Haus auf und ab lief.
Er ist nervös, stellte sie fest. Er trug einen makellosen leichten Mohairanzug und eine Krawatte, auf der sich ein Symbol zur Erinnerung an den fünfundzwanzigsten Jahrestag seines Dienstes an Bord des Flugzeugträgers »Spirit of Freedom« befand.
Spöttisch verzog Dianna die Lippen. Andrew liebte solche nicht gerade dezenten Hinweise darauf, dass er sich freiwillig zum Dienst in Vietnam gemeldet hatte, während die meisten seiner Altersgenossen sich nach Kanada abgesetzt oder einen bequemen Posten in der Nationalgarde gesucht hatten. In Florida, wo zahlreiche Kriegsveteranen ihren Lebensabend verbrachten, kam ihm der Dienst in der Marine sehr zustatten. Sein Gegner bei den Gouverneurs wählen musste sich ständig rechtfertigen und den Leuten erklären, weshalb er in aller Ruhe Jura studiert hatte, während Andrew in der fernen Subic Bay stationiert war, vor der vietnamesischen Küste patrouillierte und das Südchinesische Meer für die tapferen gottesfürchtigen Amerikaner sicherte.
Claire war geboren worden, als Andrew in Übersee war. Eines der eindrucksvolleren Fotos in seiner Brieftasche zeigte die schüchtern lächelnde Evelyn, die ihr drei Monate altes Töchterchen dem heimkehrenden Soldaten zum Kuss reichte. Andrew drückte erneut auf die Glocke. Dianna öffnete die Tür, ohne die Kette zu lösen. »Was willst du?«
Er sah sie beinahe flehentlich an. »Nur reden«, sagte er. »Bitte, Claire, wir müssen unbedingt miteinander reden.«
Andrew in Gegenwart zahlreicher Leute gegenüberzutreten, war eine Sache. Etwas anderes war es, ihn in die Wohnung zu lassen. Allein. Ohne Zeugen. Sie hatte sich in letzter Zeit etwas tollkühn verhalten, aber sie war nicht unvorsichtig. Andrews Anwesenheit auf ihrer Schwelle machte ihr regelrecht Angst. »Wir haben uns nichts zu sagen«, erklärte Dianna und wollte die Tür wieder schließen.
Andrew schob blitzschnell den Fuß dazwischen. »Bitte, Claire. Wenn du mir nicht erzählst, womit ich dich so verletzt habe, kann ich es niemals aufklären.« Andrew stammte aus Neuengland und hatte schottische Vorfahren. Es fiel ihm nicht leicht, jemanden um etwas zu bitten. Er errötete vor Verlegenheit, seine Gefühle zuzugeben. »Ich … Ich liebe dich, Claire. Was ist passiert? Weshalb bist du weggelaufen? Selbst wenn dir nichts an mir liegt … Du hast deiner Mutter furchtbar wehgetan. Sie war absolut verzweifelt, als du verschwunden warst.«
Dianna kochte vor Wut über diese Scheinheiligkeit. »Wie kannst du es wagen, mich so etwas zu fragen? Was fällt dir ein, herzukommen und zu tun, als wäre ich die Einzige, die meiner Mutter Kummer bereitet hätte. Du machst mich krank. Mir wird richtig schlecht, denn ich weiß genau, was für ein Mann sich hinter deiner glatten Fassade verbirgt.«
Andrew wurde blass. »Geht es darum? Mir ist klar, dass ich nicht vollkommen bin. Ich bin nicht der beste Ehemann, den man sich vorstellen kann. Aber ich glaube, du hast kein Recht, mir das vorzuwerfen. Evelyn und ich haben eine Übereinkunft getroffen, die uns … «
Dianna zitterte so
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