Feuerschwingen
vorbeigehen, dessen weit aufgerissene Augen vom Entsetzen erzählten, das er in den letzten Stunden erfahren hatte. Sogar einigen der härtesten Krieger war anzusehen, was sie von den Grausamkeiten hielten, doch keiner wagte es aufzubegehren.
Mit Ausnahme von Lilith , die kaum das Knie beugte und ihn entrüstet anfauchte: »Wenn das deine Vorstellung von Gnade ist, möchte ich nicht wissen, was du unter einer gerechten Strafe verstehst.«
Hier und da war zustimmendes Gemurmel zu hören.
Sofort hatte er ihren Arm gepackt und sagte mit tödlichem Ernst: »Bete, dass du es niemals herausfinden musst, Lilītu!« Damit drehte er sich um und verließ mit seinem Gefolge den Saal, ohne sich noch einmal umzusehen.
»Das war nicht nett, mon chère Marquis«, schnurrte eine weibliche Stimme. Lautlos schritt die Katzendämonin über die dicken Teppiche der Bibliothek, dem zweiten Raum, der von Veränderungen verschont geblieben war. Mit einem Lächeln stellte sie ein Glas Cognac vor ihm ab. »Ich werde die Flügel gut aufbewahren.«
» ZinZin !« Lucian leerte das Glas in einem Zug.
»Du hast die lächerlichen Gerüchte gehört?« Missbilligend fauchte sie: » Alors ! Niemand, der einigermaßen bei Verstand ist, wird dich jemals für verweichlicht halten.« Nachdem sie das Glas aufgefüllt hatte, stellte sie sich hinter ihn und massierte seine Schultern. »Es sind solche Idioten! Nicht wahr, mon cher, du wirst sie lehren, was Respekt bedeutet.«
Vogelgezwitscher kündigte einen warmen Tag an. Müde räkelte sich Mila, als sie plötzlich erstarrte: Was, wenn es in Stanmore House deutliche Einbruch- oder Kampfspuren gab oder jemand bemerkte, dass die Haustür nicht verschlossen war?
Im Nu sprang sie aus dem Bett, zog nach einer eiligen Katzenwäsche schnell an, was gerade greifbar war, und fuhr mit dem Rover zum Herrenhaus. Unbewohnt, sogar regelrecht verwaist kam es ihr vor, als sie durch den Hintereingang eintrat. Es konnten doch nicht alle Angestellten frei haben. Zumindest Janet sollte in ihrer Dachwohnung sein.
Vielleicht auch nicht , dachte Mila schmunzelnd, als sie sich an das von der Vorfreude auf einen gemeinsamen Abend mit Boris leicht gerötete Gesicht der Wirtschafterin erinnerte. Kurz darauf atmete sie erleichtert die Luft aus, die sie angehalten hatte, während sie Lord Huberts Arbeitszimmer betrat. Außer einem umgefallenen Stuhl wies nichts auf ihre nächtliche Auseinandersetzung hin, und die große Eingangstür stand zum Glück auch nicht offen. Eilig nahm sie den Schlüssel vom Haken und drehte ihn zweimal in dem alten Schloss um.
Wenn ich nun schon einmal hier bin, kann ich ebenso gut die Buchhaltung fertig machen.
Kurz vor acht klingelte ihr Handy. Auch ohne auf das Display zu sehen, wusste sie, wer dran war. » Aljoscha, erzähl mir nicht, du bist schon wach?«
»Alex«, korrigierte der junge Mann am anderen Ende. »Und ich bin noch wach«, fügte er hinzu. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Alles in Ordnung bei dir, Schwesterherz?«
Sie waren keine leiblichen Geschwister, aber nach ihrer Flucht aus Sankt Petersburg und dem schrecklichen Tod der Mutter waren sie sich gegenseitig alles, was ihnen an Familie blieb. Obwohl sich die Pflegeeltern, die Gabriel unbürokratisch für sie organisiert hatte, bemühten, den entwurzelten Kindern das Gefühl zu geben, in ihrer neuen Heimat willkommen zu sein und dies bei der acht Jahre älteren Mila geklappt hatte, tat sich Alex deutlich schwerer damit.
Vom Leben als Straßenkind gezeichnet, machte ihn nicht nur seine außerordentliche künstlerische Begabung zum Außenseiter. Das Stehlen hatte er zwar glücklicherweise aufgegeben, aber er besaß, was andere als das Zweite Gesicht bezeichnen würden. Er selbst nannte es seine beschissene Bürde .
Wahrscheinlich deshalb wirkte er verschlossen und manchmal geradezu feindselig auf Fremde, die sich selten die Mühe machten, ihn näher kennenzulernen.
Leider waren die Pflegeeltern finanziell nicht in der Lage, ihnen ein Studium zu finanzieren. Gabriel hatte Hilfe angeboten, doch noch mehr von seiner Unterstützung anzunehmen, das ließ Milas Stolz nicht zu. Aus diesem Grund hatte sie sich für eine Ausbildung bei der Armee entschieden und es sich in den Kopf gesetzt, die Studienkosten zu übernehmen, nachdem Alex sein Stipendium verloren hatte. Da war ihr gemeinsamer Schutzengel allerdings ohnehin längst aus ihrem Leben verschwunden gewesen.
Den Professoren war Alex’ künstlerische Begabung nicht entgangen, aber
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