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Feuerschwingen

Feuerschwingen

Titel: Feuerschwingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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hatte, heute fehlte ihr deren quirlige Städtermentalität kein bisschen. Bestimmt hatte sie schon längst einen Plan für das kommende Wochenende: Shoppen in der nahegelegenen Kleinstadt, womöglich Freunde auf einem Landsitz besuchen, Kino, Ausritte – ihr fiel immer etwas ein.
    Unternehmungslustig konnte Mila ebenfalls sein, allerdings brauchte sie zwischendurch Phasen der Ruhe, um ihre Akkus aufzuladen, wie sie es nannte. Und dies war auch erforderlich. Das ständige Verbergen ihrer wahren Natur mochte ihr in Fleisch und Blut übergegangen sein, es war dennoch kräftezehrend, in keinem noch so kurzen Augenblick die Kontrolle aufzugeben. Nur das Laufen gestattete ihr eine gewisse Freiheit.
    Die Silhouette des Leuchtturms wurde schnell größer, bis der Weg einen Bogen machte und am Ende in den Küstenwanderweg einmündete. Von hier aus lief sie höchstens noch eine Viertelstunde bis zum Cottage .
    Etwas stach in ihrer linken Fußsohle, deshalb blieb sie schließlich stehen, um nachzusehen. Zuvor erlaubte sie sich einen langen Blick über das dunkelblaue Meer. Diese Weite war Labsal für Milas Seele, und sie versuchte sich wie jeden Tag vorzustellen, wie es wäre, eine der Möwen zu sein, die an der Küste entlangflogen und nach Futter Ausschau hielten. Doch das war nur ein Traum, den sie am besten ganz schnell wieder vergaß.
    Nachdem sie ihren Schuh ausgeschüttelt und neu zugeschnürt hatte, richtete sie sich auf.
    »Ein erhabener Anblick«, sagte eine männliche Stimme hinter ihr.
    Erschrocken drehte sie sich um und erkannte den Einbrecher der letzten Nacht, dem es irgendwie gelungen war, sich ihr unbemerkt zu nähern. Gestern hatte sie ihn nicht so genau sehen können. Heute stellte sie fest, dass er anders aussah, als sie ihn nach der ersten Begegnung im Antiquitätenladen in Erinnerung hatte.
    Damals war er ihr wie ein Londoner Schnösel aus der City vorgekommen: die dunkle Hose aus sichtbar teurem Tuch, ein Hemd bester Qualität, blank geputzte Schuhe und nicht zuletzt das arrogante Verhalten hatten den Verdacht nahegelegt. Nun wirkte er auf eine beunruhigende Weise verwegen, obwohl ihn auch jetzt eine Aura der Unnahbarkeit umgab. Die blonden Haare waren vom Wind zerzaust, der Dreitagebart verbarg keineswegs das entschlossene Kinn, sondern betonte vielmehr die geraden Linien seines Profils.
    »Du läufst?«, fragte sie. Ganz sicher war sie nicht, ob ausgewaschene Jeans und ein T-Shirt, das mehr hervorhob als verhüllte, als Sportkleidung anzusehen waren. A ber die Laufschuhe sahen einigermaßen abgetragen und ebenso staubig aus wie ihre eigenen.
    »Wenn es sein muss.« Ein Mundwinkel zuckte, und die zarten Fältchen um seine Augen vertieften sich.
    Dieses Schmunzeln, als amüsiere er sich über alles und jeden, berührte Mila. Obwohl er ihr eine Spur zu routiniert erschien, konnte sie sich seinem Charme nur schwer entziehen.
    Zu ihrer Überraschung reichte er ihr die Hand. »Ich bin Lucian. Und du …?« Erwartungsvoll sah er sie an.
    »Mila.« Mehr brauchte er nicht zu wissen, entschied sie.
    Die Berührung war nur flüchtig, hastig entzog sie ihm die Finger. Doch es genügte, um tausend Flügelschläge in ihrem Bauch auszulösen. Danach kostete es sie eine Menge Disziplin, sich nichts von dem warmen Aufruhr in ihrem Körper anmerken zu lassen. Unkonzentriert zupfte sie den Zopf zurecht, der nach ihrem Lauf bestimmt unansehnlich aussah. Höchstwahrscheinlich glich sie einer verschwitzten Windsbraut.
    Sie wusste, dass er sie betrachtete, und schaffte es schließlich, seine Musterung mit ausdrucksloser Miene zu erwidern. Wie ein begeisterter Sportler kam er ihr wirklich nicht vor. Aber das war natürlich Unsinn, irgendwoher mussten seine exzellenten Reflexe und die einwandfreie Figur ja kommen. Es sei denn … Quatsch!, rügte sie sich selbst. Dieser Lucian konnte keiner von ihnen sein, sie hätte es fraglos bemerkt. Engel flirten nicht! Hatte sie das nicht erst heute Morgen ihrem Bruder erklärt?
    Klar, so wie du , schien ihre innere Stimme zu raunen.
    Ich bin eben anders.
    Und weil ihr der Gedanke unangenehm war, sagte sie, was ihr gerade noch in den Kopf kam: »Ich würde so gern fliegen können.«
    »Tatsächlich? Komm bloß nicht auf seltsame Ideen!« Mit dem Kopf wies er in Richtung der Klippen, die wenige Meter von ihnen entfernt steil in die Tiefe fielen.
    »Unsinn!«
    »In der Nähe ist ein Flugplatz«, schlug er vor.
    »Nicht so.« Sie streckte ihr Gesicht dem Wind entgegen. »Einfach die Flügel

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