Feuersteins Ersatzbuch
Angst um die Eltern, weil tagelang keine Telefonverbindung zustande kam.
Oder ihre Geschichten von Kamehameha, dem letzten göttlichen König Hawaiis, dessen Reich in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu zerfallen begann und der noch Untertanen hinrichten ließ, nur weil ihr Schatten seinen Palast berührt hatte. Oder von der Nationalhymne »Hawaii Pono’i«, deren Text von einem späteren, nicht mehr göttlichen Monarchen geschrieben wurde, die Musik aber von dem deutschen Regimentskapellmeister Heinrich Wilhelm Berger. Und natürlich von Pele, der Feuergöttin, die zuweilen als ältere, weiß gekleidete Frau mit einem Hündchen vor die Menschen tritt, so dass man immer sehr höflich sein muss, wenn man in Hilo einer solchen Kombination begegnet...
Die Filmarbeit war zum Glück anstrengend genug, um all diese Erinnerungen gar nicht erst wach werden zu lassen. Zum ersten Mal war ich froh über die Anwesenheit von Wolpers, denn da konnte ich jederzeit mit ihm zu streiten beginnen und damit jeden Anflug von Sentimentalität durch Hass verdrängen. Aber am letzten Tag kam es dann doch ganz anders.
Wir hatten frühen Drehschluss, und ich wanderte ziellos durch unser Hotel, das »Hilo Hawaiian«, als ich vor dem Festsaal ein Schild sah: High School Reunion — Class of ´56; Klassentreffen des Abitur-Jahrgangs 1956. Da überfiel es mich ganz heiß: Könnte das nicht Pearls Jahrgang sein? Und ihre ehemalige Klasse? Ich rechnete nach: Nein, höchst unwahrscheinlich, ihr Abschluss war erst 1958... oder irrte ich mich? Bestimmt aber war es ihre Schule, denn Hilo hat kaum 50 000 Einwohner, da gibt es sicher keine zweite High School. Und bestimmt würde es auch ein oder zwei Klassen über ihr jemanden geben, der sie kennt.
Am Eingang saß eine freundliche Dame an einem Tisch, auf dem mehrere Listen und eine Schachtel mit Namensschildern lagen. Ich schlich erst mehrmals an ihr vorbei, bis ich zu fragen wagte: Ob sie den Namen Pearl Higa schon einmal gehört habe? Sie überlegte und sagte dann Nein. Ich muss eine ziemlich verwirrte Erscheinung abgegeben haben, denn sie suchte Beistand bei einem Kollegen, der deutlich weniger freundlich war. Was ich hier wolle, fragte er scharf.
Ich erzählte den beiden meine Geschichte — und muss dabei wohl den richtigen Ton getroffen haben. Sie hat ja auch was Anrührendes: Alter Mann sucht verlorene Liebe, das letzte Kapitel im Lebensroman. Fast schämte ich mich, mit einem so abgegriffenen Klischee hausieren zu gehen... aber was kann ich dafür? Es war ja keine Romanschnulze, sondern mein Leben.
Eine Welle der Hilfsbereitschaft brach über mich herein. Andere Leute wurden zugezogen, Gesprächsrunden bildeten sich, Listen wurden durchkämmt, Schulpapiere durchforstet, man fragte, diskutierte und grübelte, jeder kannte ein paar Higas, da dieser Name in Hawaii sehr verbreitet ist, aber niemand erinnerte sich an Pearl. Man nannte mir Adressen und Telefonnummern für den nächsten Tag und bot mir jede erdenkliche Hilfe an, aber es war sinnlos, denn schon am frühen Morgen würden wir nach Honolulu zurückfliegen. Und eigentlich wollte ich das alles gar nicht. Es war ja nur ein Zufall gewesen, auf dieses Klassentreffen zu stoßen, und wenn man Pearl wirklich gefunden hätte, hätte es mir gereicht, einen Blick aus der Ferne auf sie zu werfen, ob ich sie noch erkennen würde und ob es ihr gut ginge nach all den Jahren. Danach hätte ich mich ganz schnell verdrückt...
Ich habe Pearl nicht gefunden, und das ist sicher gut so. Man soll die Vergangenheit nie mit der Gegenwart vermischen, das hat mich das Keck-Teleskop gelehrt: Allein der Versuch würde 26 Milliarden Jahre dauern...
Ich ging in mein Zimmer und blätterte im Telefonbuch von Hilo. Dort fand ich Hunderte von Higas, über mehrere Seiten hinweg. Ich schlug das Buch wieder zu, und schon zum zweiten Mal auf dieser Reise hatte ich nasse Augen. In Hawaii kommt man wirklich nicht am Wasser vorbei.
A — B — C
IN GRÖNLAND LIEGT VIEL SCHNEE
1997, zwischen zwei Reisefilmen, war ich im Auftrag der Literatur-Zeitschrift >Playboy< eine Woche in Grönland und weiß jetzt alles darüber. Zugegeben, ich war nur in Westgrönland. Aber das IST Grönland, wie es Walt Disney grönländischer nicht erschaffen könnte: Polarkreis, Eisberge, Gletscherfjorde, Hundeschlitten, Mitternachtssonne und eine so klare Luft, dass man die Unendlichkeit sieht.
Der Vollständigkeit halber ja, es gibt auch noch Südgrönland. Dort liegt die Hauptstadt Nuuk (12
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