Feuersteins Ersatzbuch
ohne Ende, Diagramme, Kurven, Funksignale, Spektralanalysen... Himmelsbilder scheinen in der modernen Astronomie so überflüssig geworden zu sein wie der Abakus in der Buchhaltung. Aber da eines der Hauptziele von Keck die Erforschung der Schwarzen Löcher ist, nimmt das nicht Wunder: Schwarze Löcher heißen vor allem deshalb schwarze Löcher, weil man sie nicht sehen kann, auch wenn dort Unglaubliches passiert. Sternhaufen verschmelzen, Galaxien verklumpen, nicht mal das Licht kann entkommen. Als Kurzsichtiger habe ich das immer schon geahnt: Wo man nichts sieht, ist am meisten los.
Dann kam die Dämmerung. Unten auf der Erde war es schon tiefschwarze Nacht, hier oben, so nahe dem All, glühte der Himmel noch rötlich-violett. Als wir den mächtigen Kuppelsaal betraten, in dem sich das Teleskop befand, knickten mir die weichen Knie fast ein: vor Staunen und Ehrfurcht.
Nur einen kleinen Spalt ist das Kuppeldach geöffnet, denn der Himmelsausschnitt, auf den sich die Beobachtung gerade richtet, ist winziger als ein einziger funkelnder Stern. Völlig lautlos, auf einem Ölfilm, bewegt sich der 270 Tonnen schwere Koloss aus 36 bis zu zehn Metern großen Präzisionsspiegeln auf die gewünschte Position und bleibt trotz der Erddrehung auf den Millimeter genau aufs Ziel fixiert.
Dann sah ich die Vergangenheit: Sterne, wie sie vor dreizehn Milliarden Jahren aussahen, denn so lange brauchte ihr Licht für die Reise zu uns. Und wenn die Vergangenheit zurückschauen könnte, würden nochmals dreizehn Milliarden Jahre vergehen, bis sie mich wahrnehmen kann. Nie habe ich die Bedeutungslosigkeit der eigenen Existenz stärker empfunden. Ich musste mich festhalten, um von dem Riesenfühler des Teleskops nicht angesaugt und ins All geschleudert zu werden...
Am nächsten Tag gab es noch einen zweiten Blick in die Vergangenheit. Nicht elf Milliarden Jahre zurück, sondern nur vierzig. Denn hier, in Hilo, begegnete ich mir ganz unerwartet als Zwanzigjähriger wieder.
Im Herbst 1959 hatte ich in meiner Heimatstadt Salzburg Pearl Higa kennengelernt, eine 19jährige Musikstudentin, die im Austausch ein Studienjahr am Mozarteum absolvierte. Sie stammte aus Hawaii, aus der Stadt Hilo, war ethnische Japanerin und frisch gebackene Amerikanerin, denn im gleichen Jahr, am 21. August 1959, war Hawaii als fünfzigster und bisher letzter Bundesstaat in die amerikanische Union aufgenommen worden. Sie war eine hochbegabte Pianistin und ein wunderbarer Mensch und wurde — nach mehreren falschen — meine erste richtige große Liebe.
Schon lange vor ihrer Rückreise war mir klar: Das durfte nicht alles gewesen sein. Ich beschloss, ihr nach Amerika nachzureisen, und sie brachte für mich wohl das größte Opfer ihrer Lebens: Sie brach das Musikstudium ab, und wir übersiedelten nach New York, wo wir kurz darauf heirateten. Als wir uns dann zehn Jahre später trennten, geschah das in guter Freundschaft: Ich wollte zurück nach Europa, sie jedoch hatte eine Karriere außerhalb der Musik gefunden, die für sie wichtig war. Erst machten wir uns vor, es sei nur eine vorübergehende Trennung, aber dann wurde doch eine endgültige daraus.
Anfangs hatten wir uns häufig geschrieben und einmal in New York sogar wiedergesehen, und es wäre sicher eine liebevolle Freundschaft daraus entstanden. Doch ging sie eine neue Bindung ein und brach deshalb den Kontakt ab, weil ihr zweiter Ehemann, ein französischer College-Professor, unter der Vergangenheit mit mir zu leiden schien — mal was anderes, denn die meisten Menschen leiden eher unter meiner Gegenwart. Aber so war es nun mal, und vor dreißig Jahren habe ich jede Spur von ihr verloren.
Ich war bisher nur ein einziges Mal in Hawaii gewesen, ganz kurz nur in Honolulu, nicht viel mehr als ein verlängertes Umsteigen zwischen zwei Flügen. AUF Hawaii war ich noch nie. In den ersten Jahren unserer Ehe hätten wir uns eine solche Reise nicht leisten können, später kam meine Scheu vor der unbekannten Verwandtschaft dazu, und schließlich war es die Vergangenheit, die mich Hawaii — und vor allem Hilo — meiden ließ: Zu wehmütig würde eine solche Reise ohne sie sein, zu viel hatte mir Pearl von ihrer Heimat erzählt.
Von der verheerenden Tsunami von 1946 zum Beispiel, der Katastrophenflut, als das Meer erst wenige Straßenblocks vor dem Elternhaus Halt machte; und als sich dann 1960, als wir bereits in New York lebten, eine zweite, noch viel schlimmere ereignete, wurde ich hilfloser Zeuge ihrer
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