Feuersuende
gewaltigen grauen Steinblöcke, die mit Hieroglyphen und Malereien versehen waren. Er erkannte die dargestellten Figuren wieder. Da war Anubis, dort Ra und etwas weiter Ammut, sie fraß die Herzen derer, die ihre Prüfung auf Ma-ats Waage der Gerechtigkeit nicht bestanden.
Er lief, bis er nicht mehr konnte, und da bemerkte er, dass sich die Szenerie inzwischen geändert hatte. Vor ihm weitete sich der Raum zu einer Halle, in der rechts und links wie im Spalier aufgereiht Seelen der Toten in ihrer menschlichen Gestalt standen. Ihre Oberkörper waren entblößt, und sie trugen nur einen einfachen Schurz aus Baumwolle um die Lenden.
Von einer trügerischen Vision, die er am Ufer des Styx gehabt hatte, abgesehen, waren es die ersten Seelen, denen er in dieser anderen Welt begegnete.
„Wer seid ihr?“, fragte Lokan, als er beim Ersten in der Reihe angekommen war, und brachte die Worte kaum heraus, so lange hatte er schon seine Stimme nicht mehr gebraucht. Sie klang rau und tonlos.
Der Mann hob den Kopf, antwortete aber nicht, sondern sah Lokan nur aus gespenstisch leeren, trüb-weißen Augäpfeln an. Hinter ihm erkannte Lokan an der Steinwand die farbige Abbildung von vielen Menschen, aufgereiht wie die, die jetzt vor ihm standen, die sich vor der Sonne demütig niederbeugten, um den Sonnengott Ra anzubeten.
Lokan wurde von einer bösen Vorahnung ergriffen. „Wo bin ich?“, fragte er den Mann, und als dieser weiter schwieg, herrschte Lokan ihn an: „Sprich!“
„Das ist die Pforte zu den Toren, der Vorraum“, kam endlich die Auskunft.
Lokan war erschüttert. Der Mann hatte ihm tatsächlich geantwortet. Er, Lokan, war also kein Geist mehr, kein körperloser Spuk, sondern real. Die ganze Szene, in der er sich hier befand, war real.
„Wessen Vorraum?“, wollte er weiter wissen.
„Der Sohn Gebs, der Sohn Nuts. Er, der Herr ist über die Lebenden und die Toten. Der Herrscher der Stille.“
„Osiris“, sagte Lokan leise zu sich selbst.
Das war ja großartig. Er befand sich auf Osiris’ Territorium oder zumindest vor dem Tor dazu. An diesen Eingang zu seinem Reich konnte sich Lokan jedoch nicht erinnern, obwohl er als Gesandter seines Vaters viel bei den Unterweltgöttern herumgekommen war und auch Osiris schon besucht hatte. Aber das musste nichts heißen. Vielleicht war das hier so etwas wie ein Hintereingang.
Lokan fragte sich, was er von Osiris zu erwarten hatte. Der Gott war ein erklärter Feind Sutekhs, von daher konnte Lokan kaum auf einen besonders herzlichen Empfang hoffen. Andererseits war Lokan nach dem Mordanschlag auf ihn auch nicht gerade gut auf seinen Vater zu sprechen. Wie sagten die Sterblichen doch gleich? Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Möglicherweise könnte Osiris zu einem neuen Verbündeten werden.
„Was seid ihr? Torwächter? Botschafter?“, fragte Lokan den Mann.
„Wir sind deinetwegen hier.“
„Gut zu wissen. Ich will ja nicht unhöflich erscheinen, aber in welcher Funktion denn?“
Keine Antwort.
Lokan versuchte, die Frage anders zu stellen. „Woher wisst ihr, dass ihr meinetwegen hier sein sollt?“
„Es steht geschrieben.“ Der Mann deutete auf die Hieroglyphenwand hinter sich.
Die alten Ägypter, jene, die diese Hieroglyphen hinterlassen hatten, glaubten an die Magie der Schrift. Wenn man es aufschrieb, so würde es auch eintreffen, ein Glaube, der so stark war, dass er sich letztlich sogar erfüllte.
Lokan dämmerte es. Diese Seelen hatte die kraftvolle Magie des Ägyptischen Pfortenbuchs hierher gezogen, und sie würden den Ort nur verlassen können, wenn Lokan ihn verließ. Sie waren keine Führer für ihn, sondern waren da, um ihm zu folgen. Na, großartig!
Als er an den Seelen vorüberschritt, verbeugten sie sich tief vor ihm und verharrten in dieser Haltung. Durch ihre Anwesenheit wurde ihm schlagartig bewusst, dass er nackt war. Seine Brüder hatten es wohl vermocht, seine Gliedmaßen und seine Seele wieder zusammenzubringen, allerdings hatten sie nicht daran gedacht, ihm ein paar Klamotten mitzuschicken.
Das Problem löste sich jedoch von selbst. Das letzte Paar in der Doppelreihe reichte ihm, als er an ihm vorbeiging und sich vor ihm verbeugte, ein säuberlich zusammengefaltetes Leinentuch und auf der anderen Seite einen Halsschmuck, eine mit Perlen besetzte, aufwändige Goldschmiedearbeit. Lokan schlang sich das Tuch um die Hüften. Den Schmuck wollte er erst zurückweisen, besann sich aber, bevor er etwas sagte. Ihm kam rechtzeitig der
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