Feurige Küsse
Jetzt lächelte er sie eine Spur herablassend an und verneigte sich nochmals höflich zu einer sehr formellen Begrüßung. „Darf ich Sie zu unserer Rezeption führen?“
Die Formalitäten nahmen erstaunlich wenig Zeit in Anspruch. „Wir sind ein sehr übersichtliches, kleines Hotel“, sagte er fast entschuldigend, während er die vorgeschriebenen Daten in ein ledergebundenes Gästebuch übertrug. „Mario bringt Ihnen das Gepäck, sobald er zurück ist. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“
Er führte sie durch die mit rosafarbenem Marmor ausgelegte Halle, „der gleiche Marmor wie im Mailänder Dom“, wie er mit beiläufigem Stolz erläuterte, eine breite Treppe hinauf und zu einer schweren geschnitzten Holztür. „Bitte sehr.“
Sie hörte Harald überrascht den Atem einziehen. Das Zimmer war tatsächlich so opulent eingerichtet wie im Prospekt – ja, es schien haargenau dasselbe Zimmer zu sein. Die Möbel, die Fenster, sogar der zierliche schmiedeeiserne Balkon entsprachen exakt dem Bild, das sie so angezogen hatte. Tief unter ihnen erstreckte sich in strahlendem Azurblau der Lago Maggiore, und an dem Spalier, das ihren Balkon von dem der Nachbarzimmer trennte, rankte ein Gewächs, dessen unzählige weiße Blüten einen überwältigenden Duft verströmten.
„Es ist zwar saumäßig teuer, aber ich muss zugeben: Es ist wirklich überwältigend.“
Gabriele nickte stumm. Der süße, schwere Geruch schien sie zu bedrängen, zu umhüllen. Ihr wurde schwindlig. Nicht unangenehm, eher ein Gefühl, als würde ihr Körper sich jeden Augenblick vom Erdboden lösen, schweben. Sie widerstand dem Impuls, nach dem Geländer zu greifen, um sich festzuhalten. Vielleicht wäre es wunderschön, auf dem Duft zu schweben wie ein Schmetterling.
„Geht es dir gut?“ Haralds Stimme klang eine Spur besorgt. „Du wirkst so abwesend.“
„Nein, nein, alles in Ordnung.“
Harald war viel zu bodenständig, als dass es einen Sinn gehabt hätte, ihm von diesem seltsamen Gefühl zu erzählen. Er würde meinen, sie hätte einen Sonnenstich.
Das Abendessen wurde im Wintergarten serviert, dessen Glasfenster auf eine gepflegte Rabatte mit Wasserspielen hinausgingen. Der majestätische Oberkellner geleitete sie zu ihrem Tisch an der hinteren Wand.
Bis auf zwei Paare in ihrem Alter wirkten die meisten Gäste bedeutend älter und ausgesprochen distinguiert. Sie war froh, sich für das schwarze Abendkleid mit dem tiefen Rückenausschnitt entschieden zu haben, das Sabine ihr mit den Worten: „Du wirst etwas Feines für den Abend brauchen“, aufgedrängt hatte.
Während Harald die Weinkarte studierte, zogen die Wasserspiele ihren Blick magnetisch an. Die glitzernden Bogen kreuzten sich in regelmäßigen Abständen, und an diesen Stellen waberten jeweils mehrere Regenbogen, deren irisierende Farben miteinander zu verschmelzen schienen. Die Figuren, aus denen die Fontänen spritzten, wirkten, als hätte man eine Antikensammlung geplündert. Am hinteren Ende stand eine gutgebaute Männerfigur mit erhobenen Armen, aus deren Fäusten vier dicke Wasserstrahlen drangen und die Grundstruktur des Musters bildeten. Zwei weibliche Figuren mit überlaufenden Krügen auf den Schultern schienen von Faunen bedrängt zu werden, die mit Fontänen aus Weinschläuchen nach ihnen zielten.
Auf den ersten Blick sah das Ganze völlig harmlos aus. Erst bei genauerem Hinsehen fiel auf, dass die Faunfiguren nicht nur mit den Weinschläuchen spritzten – aus ihren erigierten Phalli spritzte es ebenfalls in kräftigen Bogen. Eine seltsame Gartendekoration …
Das Essen war vorzüglich. Der Wein, den Harald mit taktvoller Unterstützung des Kellners gewählt hatte, passte ausgezeichnet, und in Gabriele begann sich allmählich ein angenehm träges Wohlgefühl auszubreiten.
„Lass uns noch ein wenig in den Garten gehen. Der Pool interessiert mich.“ Harald war ein begeisterter Schwimmer.
Die Sonne war gerade untergegangen, und die Dämmerung erreichte jenes Stadium, in dem die Umrisse unmerklich zu verschwimmen beginnen. In diesem letzten Licht entdeckten sie die kleine Sonnenterrasse.
Sie lag abgeschieden am hintersten Ende des Grundstücks: Zahlreiche kunstvoll geschmiedete Rankpfeiler, an denen sich duftende Schlingpflanzen emporwanden, umgaben ein Rondell, in dessen Zentrum ein pausbäckiger Amor seinen zierlichen Bogen spannte. Der schwere, süße Duft kam ihr bekannt vor. Es war der gleiche wie der, den sie auf ihrem Balkon zum ersten Mal
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