Fey 01: Die Felsenwächter
vergessen. Aber wir sind immer noch nicht auf dem Weg nach Leutia, und die Blaue Insel scheint mir nicht besonders reich zu sein. Jetzt nicht mehr.«
»Oh, das ist sie aber«, verteidigte er sich. »In dieser Hinsicht habe ich mich nicht geirrt. Sieh dir doch an, wie sie unseren Überfall überstanden haben, obwohl sie unvorbereitet waren. Sie haben immer noch genug Nahrungsmittel, und ihre Leute sind wohlgenährt.«
»Nicht alle.«
Rugar zuckte die Achseln. »Selbst in den reichsten Nationen gibt es Armut. Du siehst immer nur, wie vielen Leuten es schlechtgeht, nicht, ob die Allgemeinheit Not leidet.« Er sah sich um. Zum ersten Mal wurde ihm klar, was für ein Glück sie hatten, daß sie ausgerechnet hier in der Falle saßen – wenn sie schon in der Falle sitzen mußten. Woanders hätten sie leicht verhungern können. »Jetzt ernährt das Eiland sogar noch uns, Jewel, aber es scheint seinen Bewohnern trotzdem an nichts zu fehlen. Wir plündern ihre Gärten und rauben ihr Vieh, und sie haben immer noch genug zu essen.«
Jewel stand auf, stemmte die Hände in die Hüften und reckte sich. Dann sah sie ihn an. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, den er nie zuvor an ihr gesehen hatte. »Also wird man uns nicht zu Hilfe kommen. Auch dann nicht, wenn ein Schiff es schafft durchzukommen?«
»Wenn ich das nicht glauben würde, hätte ich keine Schiffe ausgeschickt. Nein. Dein Großvater wird uns Hilfe senden, sobald er erfährt, daß noch welche von uns am Leben sind – viele von uns. Aber er muß auch über das Gift unterrichtet werden, und er braucht Hüter, die ein Gegengift herstellen. Dann, und erst dann, wird er uns eine Streitmacht senden, die groß genug ist, die Insel zu erobern und uns zu retten.«
Jewel nickte und setzte sich wieder hin. »Deshalb hast du also die Schiffe ausgeschickt.«
Rugar runzelte die Stirn. »Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen?«
»Kämpfen.« Das Wort klang so einfach, besonders aus ihrem Munde. »Wir sind als Eroberer gekommen. Ich finde, du hättest ein drittes Mal die Truppen in die Schlacht führen müssen, und dann noch einmal und noch einmal.«
»Jewel«, widersprach er. »Wir haben schon ein Drittel unserer Soldaten verloren. Die Zweite Schlacht um Jahn hat gezeigt, daß wir machtlos sind, solange sie ihr Gift gegen uns einsetzen. Der erste Zauberspruch der Hüter hat nicht funktioniert, und es scheint, daß ihnen nichts Besseres einfällt. Solange wir das Gift nicht bekämpfen können, so lange können wir überhaupt nicht kämpfen. Wir sollten uns lieber hier verschanzen, bis wir das Problem gelöst haben, und um Verstärkung schicken.«
Wieder umklammerte Jewel schützend ihre Knie. »Ich hasse es, hier zu sein«, brach es aus ihr heraus. »Ich fange schon an, in Grau zu träumen. Manchmal möchte ich davonlaufen und mich mitten auf die Insel stellen, nur um einmal wieder etwas Grünes zu sehen.«
»Ich weiß«, beschwichtigte Rugar. Wenn er eine Methode wüßte, andere Schattenländer zu errichten, hätte er sie benutzt. Aber er kannte keine. Alles, was ihm einfiel, war, mit Hilfe der Fähigkeiten anderer das Leben in diesem Sarg erträglicher zu machen, in dem er sie alle gefangenhielt.
Eine Weile saßen Vater und Tochter schweigend nebeneinander. Rugar schämte sich ein bißchen, daß er Jewel alles erzählt hatte, als wäre sein Fehlschlag damit besiegelt. Seinerzeit hatte er geglaubt, die richtige Entscheidung zu treffen. Nie zuvor hatte er einen wirklichen Fehler begangen. Aber die Eroberung der Blauen Insel hätte sie Leutia tatsächlich einen Schritt näher gebracht. Selbst wenn die Fey nie über die Blaue Insel hinausgekommen wären, hätten sie doch immerhin deren Schätze an sich nehmen können. Und wenn sie sich entschieden hätten weiterzuziehen, hätte das Eiland einen guten Stützpunkt abgegeben. Ohne die Blaue Insel konnten sie Leutia nicht in ihre Gewalt bringen. Sie hätten ihre Feldzüge ein für allemal einstellen müssen.
Und was hätte er, Rugar, dann tun sollen? Er, der Sohn des Schwarzen Königs, der Prinz, dessen Schicksal es war, zu kämpfen und niemals zu regieren? Er zeugte Kinder, bildete sie in der Kriegskunst aus und überließ es dem Schwarzen König, sie in die Kunst der Staatsführung einzuweisen. Rugar würde nie etwas anderes sein als ein Heerführer, ein Visionär, dessen Vision sie alle ins Unglück gestürzt hatte.
Die Lichter des Torkreises flackerten. Rugar blickte auf. Die Tür öffnete sich; ein
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