Fey 01: Die Felsenwächter
schmaler, grüner Streifen des sie umgebenden Waldes war zu sehen, und der Duft nach Harz hing flüchtig in der Luft. Ein Kundschafter taumelte herein. Sein langes Haar war verfilzt und mit Brombeerblättern übersät, sein Gewand zerrissen und seine Arme völlig zerkratzt. Jewel sprang auf und lief zu ihm. Sie beugte sich über ihn, als wäre sie eine Heilerin, die genau wußte, was sie tat. Andere rannten herbei: eine echte Heilerin, eine Domestikin und Burden scharten sich um den Mann. Rugar blieb abwartend auf dem Versammlungsblock sitzen.
»Bringt ihm einen Schluck Wasser«, befahl Jewel.
Dello, die Domestikin, nickte und rannte mit wehendem, hüftlangem Haar in die nächstgelegene Hütte. Neri, die Heilerin, kniete neben Jewel. Ihre Konzentration vertiefte die Falten auf ihrer Stirn noch. Sie war kleinwüchsig, aber sehr begabt. Sie strich dem Kundschafter mit der Hand über das Gesicht und glättete sein Haar. Schon diese sanfte Berührung schien ihm Erleichterung zu bringen.
»Er kommt wieder zu sich«, sagte sie leise.
»Was gibt es für Neuigkeiten?« fragte Burden ungeduldig.
Rugar zuckte zusammen. Den Jungen mußte er im Auge behalten. Burden wußte genau, daß nur der Anführer einen Kundschafter als erster befragen durfte.
»Er muß mit meinem Vater sprechen«, sagte Jewel.
Dello kam mit dem Wasser. Sie stützte den Kopf des Kundschafters und gab ihm zu trinken.
Rugar stand auf. »Bringt ihn in meine Hütte. Sofort.«
Er wartete, bis Dello, Neri und Burden dem Mann auf die Beine geholfen hatten. Der Kundschafter stolperte ein paar Schritte in ihrem Griff, dann war er in der Lage, alleine zu gehen. Jewel hielt sich dicht bei ihm. Jetzt, wo er stand, erkannte Rugar, daß es Hiere war, der Kundschafter, den er zum Nordufer des Flusses geschickt hatte.
Rugars eigene Hütte lag weiter im Inneren des Schattenlandes. Sie gehörte zu den ersten Gebäuden, die man errichtet hatte. Ursprünglich war sie als Versammlungsraum genutzt worden, dann hatten Jewel und Rugar sie sich als Wohnhütte eingerichtet. Rugar mußte allein sein können, besonders für solche Gespräche wie dieses.
Er trat ein. Die Möblierung war noch immer spärlich und bestand aus kaum mehr als ein paar Stühlen und einem Tisch. Jewel und er hatten ihre Schiffskabinen demontiert, um sich entlang des schmalen Korridors zwei Schlafzimmer einzurichten. Rugar zündete die Lampen an und drehte sich um. Alle fünf standen da und warteten.
»Jewel kann bleiben«, befahl Rugar. »Und Hiere. Ihr anderen könnt jetzt gehen.«
Burden zögerte einen Moment, als wolle er etwas sagen, aber dann verließ auch er den Raum. Rugar wartete, bis sie in der dunstigen Luft außer Sichtweite waren, dann erst bat er Jewel, die Tür zu schließen.
Er bot Hiere einen Stuhl an. Der Kundschafter setzte sich, wobei er einen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken konnte.
»Und?« fragte Rugar, obwohl er fürchtete, die Antwort schon zu kennen.
Hiere schüttelte den Kopf. »Sie hatten es fast geschafft«, sagte er. »Sie fanden einen Durchschlupf durch die Felsenwächter, aber sie mußten vorher anhalten. Der Angriff kam schnell und blutig. Einen Augenblick lang dachte ich …«, seine Stimme brach, »… dachte ich, sie würden es schaffen. Ich dachte wirklich …«
»Sind sie alle tot?« fragte Jewel.
»Nein«, erwiderte Hiere. »Einer von ihnen konnte das Schiff beidrehen. Aber es ist schwer beschädigt. Ich weiß nicht, ob ihnen die Rückfahrt gelingt.«
»Sonst haben sie unsere Verwundeten immer laufenlassen«, warf Rugar ein. »Die Inselbewohner scheinen nicht so blutrünstig zu sein wie …« Er beendete den Satz nicht. Natürlich waren sie nicht so blutrünstig wie die Fey. Die Inselbewohner hatten noch nicht gelernt, wie entscheidend Mordlust sein konnte.
Hiere nickte. »Mich haben sie auch beinahe geschnappt. Bei den Hütten mußte ich vor ein paar ihrer Leute fliehen.«
»Haben sie dich beim Eintritt ins Schattenland beobachtet?«
Der Kundschafter zuckte die Achseln. »Wenn es so war, sind sie mir jedenfalls nicht gefolgt. Es tut mir leid, daß ich so schlechte Nachrichten bringe, Rugar.«
Rugar klopfte ihm auf die Schulter. »Es ist nicht deine Schuld«, beschwichtigte er.
»Warum bist du gerannt?« erkundigte sich Jewel. »Warst du nicht unsichtbar?«
Hiere sah sie einen langen Augenblick an; seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen. Offensichtlich hatte er schon lange nichts mehr gegessen. Das Wasser hatte ihn nur
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