Fey 01: Die Felsenwächter
mußte. Er ließ sich in den nächstbesten Stuhl sinken. Es war der, in dem Nicholas gesessen hatte.
»Ich verstehe das immer noch nicht«, wandte Lord Stowe ein. »Er sah aus wie Stephan, aber er hat sich aufgelöst wie ein Fey. Ist es das, was mit einem passiert, wenn man besessen ist?«
»Wenn das so einfach ist, warum haben wir es dann nicht schon bei anderen gesehen?« stimmte Nicholas zu.
»Vielleicht haben wir das ja«, erwiderte Lord Stowe, »und haben es bloß nicht gemerkt.«
»Er sah aus wie Stephan«, wiederholte Alexander. »Er benahm sich wie Stephan. Er erinnerte sich an Dinge, die nur Stephan wissen konnte. Er mußte Stephan sein, nur irgendwie verändert. Diese Frau muß ihn dort im Korridor verzaubert haben.«
»Oder sogar noch vorher«, setzte Nicholas hinzu.
Alexander schüttelte den Kopf. »Vorher hat er sich immer negativ über die Fey geäußert. Danach hat er Dinge gesagt, die uns mißtrauisch hätten machen müssen, wenn wir bloß darauf geachtet hätten.«
»Aber Ihr wußtet es«, wandte Lord Egan ein. »Woher?«
»Ich wußte, daß wir irgendwo eine undichte Stelle haben mußten«, sagte Alexander. »Euch alle hatte ich schon überprüft. Nur Stephan machte sich verdächtig. Er hat sich selbst verraten. Aber das hier habe sogar ich nicht erwartet. Niemals. Als ich die Schüssel nach ihm schleuderte, wollte ich ihn nur ein bißchen erschrecken. Um ihn auf die Probe zu stellen. Ich konnte nicht wissen, daß er derartig in Panik geraten würde.«
»Sie können überall sein«, murmelte Lord Fesler. »Und wir merken es nicht einmal. Sie könnten sogar hier im Zimmer sein, ohne daß es einem von uns auffällt.«
Alexander legte die Hand auf die Stirn. Auch ihm war dieser Gedanke schon gekommen. Jetzt wurde die Aufgabe des Rocaan doppelt so schwierig. Er mußte nicht nur Weihwasser für den Krieg herstellen, sondern auch, um alle möglichen Leute auf die Probe zu stellen. Tägliche Überprüfungen – und wie weit sollten sie gehen? Sollten sie jeden Diener überprüfen? Jeden, der mit dem König in Kontakt kam? Was war mit den Leuten auf der Straße? Den Kindern? Wo endete das Mißtrauen?
»Wie viele von ihnen mag es wohl geben?« fragte Egan.
Alexander seufzte. »Ich weiß es nicht«, sagte er leise. »Den Kampf gestern nacht haben sie jedenfalls gewonnen.« Er wandte den Blick von der Leiche und schaute in die neugierigen Gesichter, die ihn umringten. »Sie haben nicht nur unsere Leute und unser Weihwasser, jetzt haben sie auch noch unser Vertrauen. Wir werden einander nie mehr richtig trauen können.«
45
Jewel preßte die Hand gegen die Stirn, als könnte sie so die Kopfschmerzen in den hintersten Winkel ihres Schädels zurückdrängen. Sie war jetzt fast dreißig Stunden ununterbrochen wach gewesen, und bei jeder Bewegung ihrer Schultern fühlte sie, wie verkrampft ihre Nackenmuskeln waren. Die Wassereimer waren schwer. Sie wünschte, die Domestiken hätten ihr eine andere Pflicht zugewiesen.
Mit der Hüfte stieß sie die Türflügel auf, die ins Domizil führten. Sofort überwältigte sie der Blutgeruch. Das Domizil war das größte Gebäude des Schattenlandes. Rugar hatte es auch zum wichtigsten erklärt, seit es nicht nur Schauplatz der meisten häuslichen Arbeiten war, die im Schattenland anfielen, sondern zusätzlich noch Krankenhaus. Das schmale, langgestreckte Gebäude war in verschiedene Bereiche aufgeteilt: Zimmer für die Küchenmeister, Räume für die Weber und ein eigenes Gemach für die Schamanin. Der Hauptraum, den Jewel jetzt betrat, war so groß wie drei der anderen Zimmer zusammengenommen und diente als Krankenstation.
Sieben Infanteristen mit Schwertverletzungen im Unterleib belegten zur Zeit die Betten. Ein weiterer hatte einen zerschmetterten Arm, und auf dem Feldbett neben der Tür lag ein Toter, bereit zur rituellen Waschung und zur Verauslagung. Jewel setzte ihre Eimer neben dem provisorischen Lager ab und reckte sich. Ihre Rückenwirbel knackten, als ihre Wirbelsäule sich dehnte. Noch nie hatte sie während eines Kampfes untätig zusehen müssen, und die Gerüche, die durch die Wände des Schattenlandes sickerten, erschreckten sie mehr als der kurze Blick in die Dunkelheit, als der erste Fey durch die Kreistür gestolpert kam.
Und natürlich die Gefangenen. Jewel war schrecklich neugierig auf sie. Aber man hatte ihr verboten, sie zu sehen, bevor ihr Vater und Caseo sich mit ihnen befaßt hatten.
Neri kam herein. Ihr Gesicht war
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