Fey 01: Die Felsenwächter
hatten ihrem Vater geraten, einen Rammbock zu bauen, sobald sie die Blaue Insel erreichten, aber er hatte darauf bestanden, den Stamm herzutransportieren, selbst als sie wegen des Gewichts noch ein zusätzliches Schiff auf die Reise mitnehmen mußten.
»Wir stürmen!« rief Shima. Die kleine Gruppe begrüßte die Entscheidung mit lautem Jubel. Gemeinsam hoben die zwanzig Soldaten den Rammbock an. Im Vergleich zu dem mächtigen Stamm wirkten sie winzig. Sie standen einen Augenblick still, die Gesichter vor Anstrengung gerötet, holten tief Luft und trabten dann los, bis der Rammbock gegen das Tor donnerte.
Das Geräusch hallte dumpf in den Straßen wider. Jewel fühlte, wie der Boden unter ihren Füßen erzitterte. Ihr ganzer Körper war angespannt. Dort, wo der Rammbock das Tor getroffen hatte, war das Holz abgesplittert. Die Soldaten gingen im Gleichschritt ein paar Schritte zurück und setzten abermals an. Wieder ein dumpfer Schlag und ein Beben. Jewel horchte angestrengt, aber hinter dem Tor war nichts zu vernehmen.
Auf der anderen Seite der Straße wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet. Sonnenlicht glänzte auf blasser Haut. Jewel konnte die Furcht beinahe riechen. Niemals zuvor hatte jemand versucht, den Palast zu stürmen. Eines der wenigen Dinge, die jeder über die Blaue Insel wußte, war, daß bisher jeder Eroberungsversuch gescheitert war.
Wieder schlug der Rammbock dumpf gegen das Tor. Dieses Mal stoben winzige Stückchen Holz in alle Richtungen. Jewels Blick untersuchte das Tor. Sie hatte Angst, die Splitter könnten vom Rammbock stammen, nicht von der Tür. Aber das Tor gab in der Mitte tatsächlich langsam nach, bleiche Holzstücke ragten in den leuchtend blauen Himmel.
Schweigend beobachteten die Angreifer das berstende Tor. Das einzige Geräusch waren die Stiefel der Soldaten, die in gleichmäßigem Rhythmus über den Boden scharrten, und der darauffolgende Schlag, wenn der Rammbock gegen das Tor stieß. Mit undurchdringlicher Miene und verschränkten Armen sah Shima zu. Jewel fragte sich, ob sie die ganze Reise von Nye bis hierher in dieser angespannten Furcht verbracht hatte und ob es anderen ebenso ergangen war.
Auf der Straße wurden Stimmen laut. Das Geräusch schwerer Stiefel, die im Gleichschritt marschierten, übertönte das Scharren. Jewel und Shima blickten auf. Sie konnten die Verstärkung noch nicht sehen, aber hören.
Wieder krachte der Rammbock knirschend gegen das Tor, und diesmal hinterließen die herausbrechenden Holzsplitter ein kleines Loch. Über Jewels Arme lief eine Gänsehaut. Sie erkannte Pflastersteine, ein graues Steingebäude, Beine, die vorbeiwirbelten. Pferde wieherten voller Panik, und in der Morgenluft waren aufgeregte Stimmen zu hören, die sich in einer fremden Sprache verständigten.
Nur noch wenige Stöße, und das Tor war überwunden. Jewel sah auf und bemerkte, daß Burden sie anstarrte. Die Sonne schmeichelte seinem Gesicht, sie schimmerte auf seinen hohen Wangenknochen und betonte die schönen dunklen Augen. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte er ihr zu. Sie erwiderte sein Lächeln. Eine sonderbare Freude erfüllte sie plötzlich. Sie liebte den Kampf. Sie hätte sich nicht von Shimas Angst anstecken lassen dürfen.
Shima ging hinter den Rammbock, um dort auf die Truppenverstärkung zu warten. Wieder donnerte der Stamm gegen das Tor und vergrößerte die Öffnung. Die Soldaten zogen den Stamm heraus und setzten zu einem neuerlichen Stoß an. Das Loch war jetzt groß genug, um Soldaten hindurchzulassen, dennoch war bisher kein Gegenangriff von den Palastmauern herab erfolgt. Es schien, als hätten sie noch ausreichend Zeit, den Durchbruch zu vergrößern.
Inzwischen war auch die Verstärkung eingetroffen, ungefähr so viele Männer wie die Einheit, der Jewel angehörte. Sie nahmen die ganze Breite der Straße ein – schlanke, durchtrainierte Soldaten in Lederanzügen, die Schwerter ihrer Familien an den Hüften.
Die Gruppe, die den Rammbock bediente, trabte wieder auf das Tor zu und setzte den Stoß diesmal etwas tiefer an. Knackend und knirschend gab das Holz unter dem Ansturm nach. Innen schrie jemand auf, und es dauerte eine Minute, bis Jewel begriff, daß ein Pferd diesen Schrei ausgestoßen hatte. Die Soldaten legten den Rammbock nieder, zückten die Schwerter und stürmten durch das Tor.
Die Hälfte der soeben eingetroffenen Truppe folgte ihnen unter lautem Kriegsgeschrei. Die andere Hälfte verteilte sich im Laufschritt auf die
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