Fey 01: Die Felsenwächter
schlammbedeckten Knie sinken. Er war dermaßen von seinen Empfindungen überwältigt, daß er zitterte. Er mußte diese Gefühle trennen: in jene, die die Vision ausgelöst hatten, und jene, die er momentan tatsächlich empfand.
Die Visionen waren von Angst und Schrecken erfüllt. Todesangst, Panik vor dem Ersticken, Entsetzen über die vielen herumliegenden Leichen. Der Kalk roch nach Verwesung. Normalerweise brauchte er Tage, um so etwas zu verarbeiten. Aber jetzt mußte er sein eigenes Entsetzen überwinden.
Im Sitzen erging es ihm nicht besser. Er mußte sich bewegen. Er steckte eine Hand in die weiche Erde und spürte die warme, sämige Flüssigkeit. Er stand auf, Schlamm tropfte von seiner Kleidung. Was für einen herrlichen Befehlshaber er jetzt abgab: der Sohn des Schwarzen Königs, hochgewachsen und stolz mitten im Feindesland.
Er mußte über den Gedanken lächeln. Wie ein Hund schüttelte er den Schlamm ab und bog den Kopf zurück. Die Sonne beschien den Boden, den seine eigenen Wetterkobolde in Schlamm verwandelt hatten. Seine Truppen waren über die gesamte Insel zerstreut, verbreiteten Tod, Verwüstung und Entsetzen, unterminierten die Führung. Bis jetzt war der Feldzug ein voller Erfolg. Das Entsetzen, das er fühlte, hatte ausschließlich mit seiner Vision zu tun.
Diese Vision widersprach der anderen, die er gehabt hatte.
Er verließ das Schlammloch und ging auf dem glitschigen Gras auf und ab. Vor Jahrzehnten hatte ihm sein Vater erklärt, Visionen kämen in willkürlicher Folge. Es war möglich, daß er seinen Todesabend mit achtzig Jahren sah, gemeinsam mit der Geburt seines Kindes im Alter von zwanzig. Die Vision der toten Fey konnte erst in Jahren Wirklichkeit werden. Keines der Gesichter war deutlich zu erkennen gewesen, sonst hätte Rugar den Zeitpunkt dieser Ereignisse genauer bestimmen können.
Seine Vision von Jewel hingegen war eindeutiger ausgefallen. In ihr war seine Tochter nur ein paar Jahre älter als jetzt und ging mit einem Kind auf den Armen durch den Palast der Inselbewohner. Diese Vision konnte er zeitlich genau festlegen. Sie würde bald eintreffen.
Diese Visionen hatten ihn erst nach der Landung auf der Insel heimgesucht. Vielleicht war er blind, wenn er auf dem Meer war. Davon hatte er schon gehört. Visionen stellten sich schneller ein, wenn er erschöpft war, so wie jetzt. In diesem Zustand war sein Geist empfänglicher.
Er sollte dankbar sein, daß die Visionen wieder zurückgekommen waren.
»Rugar.« Die Stimme klang atemlos. Rugar schloß die Augen und ging weiter auf und ab. Er hoffte inständig, der Besitzer der Stimme würde daraus schließen, daß er jetzt auf keinen Fall stören durfte, wenn er nicht von Rugars Leibwächtern entfernt werden wollte.
»Rugar! Bei allen Mächten, Rugar, du mußt mich unbedingt anhören.«
Endlich erkannte er die Stimme. Es war Caseo. Caseo, der sich eigentlich gemeinsam mit den anderen Hütern des Zaubers in den Lagerhallen befinden sollte, um die Beute der Rotkappen entgegenzunehmen und weitere maßgeschneiderte Zaubereien für die Blaue Insel zu ersinnen. Rugar unterdrückte einen Seufzer. Er wußte, wie lächerlich er aussah, aber es kümmerte ihn nicht. Er verschränkte die Arme und wirbelte herum. »Du bist nicht auf deinem Posten.«
»Mit gutem Grund.« Caseos Augen waren weit aufgerissen. »Rugar, sie schlachten uns ab.«
»Wer?« Vielleicht war dies nur eine von Caseos wilden Übertreibungen.
»Die Inselbewohner. Auf der anderen Seite des Flusses. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas so Furchtbares gesehen.« Caseo sah im Tageslicht noch hohlwangiger aus. Er nahm seine Stellung als Oberster Hüter sehr ernst. Er wäre bestimmt nicht einfach zu Rugar gekommen, um ein Gerücht zu verbreiten.
Rugar überkam ein neuerliches Frösteln. »Was ist geschehen?«
»Ich weiß es nicht genau. Der Geruch treibt in Wolken herüber, ein kräftiger, ätzender Verwesungsgeruch, und wenn er sich lichtet, können wir sehen, wie schwarzgekleidete Inselbewohner irgendeine Flüssigkeit über unsere Leute gießen. Sie schreien, Rugar, sie schreien – und sie sterben schreiend.«
Rusty und Eisenfaust waren näher gekommen. Sie hielten sich in respektvollem Abstand, standen aber doch so nahe, als steckte Caseos Aufregung sie ebenfalls an.
Rugars Mund war trocken. »Wo genau findet das statt, Caseo?«
»In diesem großen Gebäude auf der anderen Seite. Es hat viele Türme und kein Eingangstor. Das Gebäude, in dem ihre
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