Fey 01: Die Felsenwächter
Religion ihr Hauptquartier hat, wie die Leute in Nye sagten.«
Seine Worte fanden kaum Beachtung. Rugar sah statt dessen vor seinem geistigen Auge einen schwarzgekleideten Mann aus einem Raum laufen. Er hatte den Arm voller Glasgefäße. Wasser vom Himmel, das ihn schwach machte. Wasser. »Flüssig«, sagte er.
»Was?« fragte Caseo.
»Kein Wunder«, murmelte Rugar. Seine Leute lagen im Sterben. Scharenweise, wie noch niemals zuvor. Kein Wunder, daß ihn seine Vision flach niedergestreckt hatte. Der erste und der zweite Teil waren keine Vorhersagen. Sie waren bereits grausame Gegenwart. Und wenn er ihr kein rasches Ende bereitete, würde der dritte Teil die Zukunft sein.
Er packte Caseos Schulter. »Du mußt mich hinbringen«, sagte Rugar. »Jetzt sofort.«
»Das kann ich nicht«, erwiderte Caseo. »Sie bringen dich dort um.«
Rugar schüttelte den Kopf. »Ich habe alles in einer Vision gesehen. Wir müssen sie aufhalten. Wir haben keine andere Wahl.«
16
Noch niemals hatte in den Räumen des Rocaan ein solches Durcheinander geherrscht. Der Boden war schlammbedeckt. Die Sofas hatte man an die Wand geschoben und den Tisch in die Mitte des Raumes gerückt. Irgend jemand hatte freundlicherweise die Tür zu seinem Schlafzimmer geschlossen. Mindestens vierzig Leute befanden sich in dem Raum, entweder über Glasgefäße gebeugt oder damit beschäftigt, die gefüllten Flaschen in den Korridor zu tragen. Das Stimmengewirr war ohrenbetäubend und verstummte nur gelegentlich, wenn ein besonders lauter Schrei aus dem Hof ertönte.
Trotz der zunehmenden Hitze saß der Rocaan am Feuer. Er trug immer noch seinen schweren Talar und war barfuß. Sein Frühstück stand unberührt auf einem Tisch neben ihm. Jemand hatte die Gobelins vom Fenster zurückgezogen. Ungehindert drangen die ersehnten Sonnenstrahlen, aber auch die Todesschreie in den Raum.
Das Weihwasser. Sein Weihwasser tötete sie. Das Weihwasser, mit dem der Roca selbst jenes Schwert gereinigt hatte, mit dem ihn die feindlichen Soldaten anschließend durchbohrten. Von Rocaan zu Rocaan war das Geheimnis des Wassers über viele Generationen weitergegeben worden. Während des Mitternachtssakraments der Gemeinde wurde es in kleinen Gefäßen gereicht, damit die Gläubigen ihre Schwerter in der rituellen Reinigungszeremonie säubern konnten.
Und hier saß er, der Fünfzigste Rocaan, und wußte nur zu genau, wie wenig Gefäße sich im Tabernakel befanden, daß ihr Inhalt tödlich war und daß ohne dieses Wasser alle Bewohner der Blauen Insel verloren waren.
Wenn er jemals des Ohres Gottes bedurft hatte, dann jetzt.
Aber er fühlte die Gegenwart des Heiligsten nicht. Er war allein.
Ganz allein. Die einzige Person in diesem Raum, die sich nicht bewegte, Pläne schmiedete oder diskutierte. Er wünschte, sie würden alle verschwinden, damit er ungestört nachdenken konnte. Tief in seinem Innersten fühlte er, daß es unrecht war, mit Weihwasser zu töten, mochte es auch noch so zuverlässig und schnell wirken.
Die Ältesten hatten die Aufsicht in den Räumen des Rocaan übernommen. Sie ließen die Auds an allen geweihten Orten, in Kapellen und Hinterzimmern nach weiterem Weihwasser suchen. Die Ältesten hatten nichts zu ihm gesagt, sich nicht mit ihm beraten, abgesehen von Matthias’ eiliger Nachricht hinsichtlich der Wirkung des Wassers. Diese Mitteilung war von allen Vertrauten des Rocaan, den Geistlichen und den höchsten Autoritäten des Tabernakels mit einhelliger Begeisterung aufgenommen worden.
Mit Begeisterung!
Der Rocaan stützte den Kopf in die Hände. Seine Handflächen waren heiß und feucht. Sein Körper schmerzte von den Anstrengungen des Morgens. Sogar sein Sessel war ihm unbequem geworden. Er zog die Knie an, bis seine bloßen Füße unter der Robe verschwanden, ein Trick, den er seit der Zeit, als er noch ein Aud gewesen war, nicht mehr angewandt hatte.
Früh am Morgen hatten ihn die heulenden Rufe erschreckt, und er hatte sich in inbrünstigem Gebet für sein Volk auf die Knie geworfen. Er hatte das kleine Silberschwert, das er um seinen Hals trug, fest umklammert und sich gefragt, ob er es mit derselben Ruhe und Demut in seinen Körper aufnehmen würde wie der Roca vor vielen Jahrhunderten.
Der zum Helden gewordene Märtyrer, der im Tode Gottes Liebe empfangen hatte.
Der Rocaan wünschte sich nichts sehnlicher für sein Volk, als daß es ebenfalls dieser Liebe teilhaftig würde. Statt dessen schlugen sie jetzt mit einer Waffe
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