Fey 01: Die Felsenwächter
dauerte eine Weile, bis jemand reagierte.
Solange er wartete, musterte er sie aufmerksam. Die geschwungenen Brauen, die nußbraune Haut, die zarten Knochen, die ihrem Gesicht einen anmutigen Ausdruck verliehen, unterschieden ihr Äußeres von dem eines Inselbewohners. Ihr Atem ging ebenso heftig wie sein eigener. Wie ein einziges Wesen atmeten sie gleichzeitig ein und aus.
»Dein Rücken ist ungeschützt«, bemerkte sie.
»Um dich festzuhalten, bin ich bereit, dieses Risiko einzugehen«, erwiderte er. Und genau so meinte er es auch.
25
Sie war so mit Schmutz und Blut beschmiert, daß sie sich schon wie eine Rotkappe vorkam. Shima kämpfte mechanisch, zielte und tötete, als befände sie sich allein auf dem Feld. Die Schlacht hatte sich mittlerweile zu dem organisierten Chaos entwickelt, in das jeder Kampf irgendwann zu münden schien, und selbst wenn sie in der Lage gewesen wäre, Befehle zu erteilen, so hätte sie doch niemand gehört.
Die Sonne brannte ihr warm auf den Rücken. Shima befand sich immer noch im Hof. Der größte Teil ihrer Truppe war in den Palast eingedrungen, aber sie wartete hier draußen auf Verstärkung. Dutzende von Fey waren ebenfalls hiergeblieben und kämpften mit denjenigen Inselbewohnern, die noch Widerstand leisteten. Die Inselbewohner waren unfähige Kämpfer mit einer armseligen Technik. Die meisten von ihnen benutzten nicht einmal Schwerter, sondern kämpften mit Holzstecken oder improvisierten Waffen, die beim ersten kräftigen Schlag zerbrachen.
Vielleicht hatte sie sich getäuscht. Vielleicht hatte Jewel recht gehabt. Vielleicht war die Vision trügerisch gewesen. Bis jetzt war der Angriff problemlos verlaufen. Nach einem Tag mit vollem Kampfeinsatz der Fey würden sich die Inselbewohner ergeben.
Zumindest schütteten sie kein kochendes Wasser mehr aus den Fenstern. Der Schlamm war hier ziemlich tief, rings um sie herum glänzte die Haut der verletzten Fey rötlich. Menschen stöhnten. Die Toten lagen dort, wo sie gefallen waren, die offenen Augen vorwurfsvoll zur Sonne gerichtet.
Sie versetzte dem Inselbewohner, mit dem sie gerade kämpfte, einen Hieb und duckte sich dann hinter eine Säule, um Atem zu schöpfen. Seit die Fey in den Palast eingedrungen waren, hatte sie ununterbrochen gekämpft; hatte ihren Truppen erlaubt, ohne sie in den Palast vorzustoßen, und Jewel stillschweigend das Kommando übergeben. Shima wußte seit langem, daß es früher oder später auf einem Feldzug so kommen würde. Sie hatte jedoch keine Ahnung gehabt, daß es schon diesmal soweit sein würde.
Das Scheppern von Metall mischte sich mit Schmerzensschreien. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Schmutz und getrocknetes Blut hinterließen dunkle Spuren.
Gerade als sie sich wieder ins Getümmel stürzen wollte, sah sie, wie sich ein Soldat der Inselbewohner mit dem Blut eines toten Kameraden beschmierte. Sie hielt inne. Bislang hatte sie keine Beweise dafür gefunden, daß sich die Inselbewohner derselben Waffen bedienten wie die Fey. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, daß sie über ähnliche Kräfte verfügten.
Oder handelte es sich hier um einen Doppelgänger? Es wäre nützlich zu wissen, um welchen.
Vorsichtig, den Rücken immer gedeckt, schlich sie um die Säule herum und spähte über die Kämpfenden hinweg. Der Soldat hielt einen schlanken Mann mittlerer Größe am Arm gepackt, und plötzlich waren beide verschwunden.
Ein blutender Inselbewohner taumelte gegen Shima und ging dann zu Boden. Der Fey, der den Inselbewohner verletzt hatte, war bereits in den nächsten Kampf mit einem keulenschwingenden Mann verwickelt. Shima stand eine Sekunde lang unbehelligt da, lange genug, um zu sehen, wie sich der schlanke Mann aufrichtete. Er war allein, nackt und unverletzt.
Genau, wie sie vermutet hatte. Ein Doppelgänger. Sie umklammerte ihr Schwert fester und zog das Messer aus der Scheide. Dann drängte sie sich durch die Menge, beendete mehr als einen Zweikampf mit dem entscheidenden Hieb und blieb sogar einmal kurz stehen, um einem Mann den Leib aufzuschlitzen.
Der Doppelgänger hatte sich gebückt. Sie sah nur seinen nackten Rücken. Dann richtete er sich auf, streifte sich ein Hemd über den Kopf und schwankte, während er eine Hose anzog. Es schien endlos lange zu dauern, aber schließlich war sie doch bei ihm angekommen.
»Welcher bist du?« fragte sie so leise wie möglich.
Er blickte sie prüfend über seine lange schmale Nase hinweg an, und einen
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