Fey 01: Die Felsenwächter
Gesehen, wie er sich über sie beugte und sie fragte, wie es ihr gehe.
Der Prinz verstärkte seinen Griff und zog sie näher zu sich. »Was bewirkt dieses Zeug?« fragte er den Schwarzgekleideten.
Dieser erwiderte in der Landessprache, und der Prinz wurde bleich.
»Wir wissen nichts von diesen Menschen«, sagte er auf Nye. Er wollte offenbar, daß sie ihn verstand, obwohl sie nicht wußte, warum. Vielleicht damit sie begriff, daß er ihr erneut das Leben rettete? »Sie zu töten bringt uns nicht weiter. Wenn wir von dem Mädchen mehr über ihr Volk erfahren, dann können wir uns besser auf die Zukunft vorbereiten.«
Der Schwarzkittel wechselte einige Worte mit dem König. Dieser schüttelte den Kopf. Dann stützte er den Ellbogen aufs Knie und wandte sich an Jewel. »Der Danite sagt, er weiß nicht, was ein einziger Tropfen bewirken würde. Er vermutet, daß du davon nicht stirbst. Ein Guß hingegen kostet dich das Leben. Er schlägt vor, daß wir dich foltern, wenn du nicht freiwillig redest.«
»Und er bezeichnet sich als Mann Gottes?« warf Schattengänger ein.
Warnend machte Jewel einen Schritt rückwärts in seine Richtung. Idiot! Verstand er denn nicht, daß er sich mit dieser Verhöhnung schadete und verdächtig machte? Sie wußten bereits zuviel über die Zauberkräfte der Fey. Vielleicht errieten sie auch, daß er ein anderer war, als er zu sein vorgab.
Der Prinz hielt sie fest und runzelte die Stirn.
Der Mann in der schwarzen Robe erteilte Schattengänger eine scharfe Rüge. Schattengänger erwiderte etwas in der Inselsprache. Das Gesicht des Mannes wurde rot vor Zorn.
Jewel versuchte die beiden so wenig wie möglich zu beachten und heftete den Blick auf den König. »Ihr wißt doch noch gar nicht, ob ich vielleicht aus freiem Willen reden werde. Warum sprecht Ihr dann jetzt schon von Folter?«
Der König musterte sie aufmerksam. In sein Gesicht hatten sich tiefe Falten eingegraben, die ersten grauen Strähnen waren in seinem Haar zu sehen. Traurigkeit. Sein gesamtes Wesen strahlte Traurigkeit aus.
»Für jemanden, der im nächsten Augenblick sterben könnte, machst du einen erstaunlich furchtlosen Eindruck«, sagte der König.
Jewel hatte sich aufgerichtet und den Griff des Prinzen abgeschüttelt. »Ich bin Soldatin«, sagte sie. »Ich bin mein ganzes Leben lang zum Sterben ausgebildet worden.«
Das Gesicht des Königs blieb undurchdringlich, aber Stephan und der Schwarzkittel hatten den Mund leicht geöffnet. Ein wohliger Schauer der Aufregung überlief Jewel. Sie wußten wirklich nicht das geringste über ihr Volk. Sie konnte mit ihnen sprechen, sie belügen und den Fey helfen, indem sie falsche Befürchtungen in ihnen weckte. Sie mußte in Ruhe überlegen, wie sie dabei am besten vorgehen sollte. Hoffentlich blieb ihr noch genug Zeit.
Der König sah sie lange nachdenklich an. Dann stand er auf, als könnte er seine Energie nicht länger bezähmen. Er schritt in dem breiten Raum auf und ab und ging an den anderen Männern vorbei, als wären sie Luft. Schließlich blieb er direkt vor ihr stehen.
Er war ein paar Zentimeter kleiner als sein Sohn. Sie mußte den Blick senken, um ihn anzusehen. Sie sah, daß sich in seinen Augen eine innere Ruhelosigkeit widerspiegelte, und sie verstand, warum ihre Worte ihn berührt hatten: Er haßte es, in diesem Raum eingesperrt zu sein, während sein Volk draußen starb.
»Was habt ihr hier vor?« Er sprach leise, und seine Stimme bebte vor Zorn. Er meinte damit nicht Jewel allein, sondern alle Fey, die ihr Vater hergebracht hatte.
Sie konnte nichts Falsches darin sehen, ihm die Wahrheit zu sagen. »Die Fey haben schon die halbe Welt erobert«, sagte sie. »Die Blaue Insel ist zufällig eine der reichsten Inseln der Welt, und wir wollen sie in unseren Besitz bringen.«
»Wir haben niemandem etwas zuleide getan. Wir treiben mit allen Handel, die auch mit uns Handel treiben wollen. Ihr hattet keinen Grund für euren grausamen Überfall.« Er spuckte ein wenig, als er die Silben aussprach. Obwohl ihr Kinn feucht davon wurde, wandte Jewel den Kopf nicht ab.
»Wir treiben mit niemandem Handel«, erwiderte sie.
»Aber wir hätten euch bestimmt akzeptiert.«
Sie schob das Kinn vor und setzte ein Gesicht auf, das an ihrer Autorität keinen Zweifel ließ. »Wir handeln mit niemandem«, wiederholte sie.
Er neigte leicht den Kopf und blickte zu ihr auf. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, Schatten, die nicht allein von der heutigen Schlacht herrührten.
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