Fey 02: Das Schattenportal
stiegen ihm in die Augen. Der Aud hatte nicht gelogen. Er hatte das Schwert von allem Wasser gesäubert, es der religiösen Vorschrift nach vergiftet, damit es beim Mitternachtssakrament, in Erinnerung an die Handlung des Roca vor seiner Aufnahme in die Hand Gottes, wieder gesegnet werden konnte.
»Ich danke dir«, sagte Tel, vielleicht ebensosehr zu ihrem nichtexistenten Gott wie zu dem jungen Aud, der ihm das Schwert gereicht hatte. Er hielt den Griff fest umschlossen, atmete tief durch und riß sich zusammen. In den nächsten Augenblicken würde er sich der größten Bewährungsprobe in diesem Körper – vielleicht sogar der größten Bewährungsprobe seiner ganzen Laufbahn – aussetzen.
Er schob das Schwert hinter die Schärpe und band sie neu, damit es nicht herausrutschen konnte. Dann öffnete er die Tür und trat hinter den Altar. Mit einem leisen Klicken schloß sich die Tür hinter ihm.
Allmählich hoben sich die Köpfe, senkten sich die Arme. Die Sakristei, die ihm am Morgen noch kalt und riesig vorgekommen war, war jetzt warm und überfüllt. Wie Andre blieb er eine Weile stehen und wartete, bis die Versammelten ihre Meditationen und Gebete abgeschlossen hatten.
Er wußte, daß einige von ihnen schon seit Stunden dort ausharrten. Er war Sitte, daß die Leute, bevor sie Aufnahme zu ihrem Gott suchten, ihre Seelen und Gedanken in Zwiesprache mit dem Heiligsten reinigten. Er wußte auch, daß einige auf eine tatsächliche Aufnahme hofften, aber auch, daß so etwas noch nie vorgekommen war – jedenfalls nicht in der Geschichte der organisierten Kirche.
Schließlich sah die ganze versammelte Gemeinde zu ihm auf. Die Gesichter waren unvertraut – kein einziges war dabei, das Miruts gekannt hatte – und zugleich merkwürdig vertraut. Er hatte das Gefühl, erst am vergangenen Morgen vor ihnen gestanden zu haben. Er wußte, daß die Zeremonie, die er heute abend hier durchführte, für sie in vielerlei Hinsicht mit denen verknüpft war, die Andre in der Vergangenheit durchgeführt hatte. Alle Ältesten wußten, daß die Gemeinde sich versammelt hatte, um einen bestimmten Ältesten zu unterstützen, und die Anhänger Andres bevorzugten ihn seiner sanften, ruhig gesprochenen Worte wegen.
Tels Herz hämmerte. Es war Zeit, anzufangen. Wenn er keinen Fehler machte, würde niemand erfahren, wer er war. Niemand würde auf den Gedanken kommen, daß er nicht derjenige war, der er zu sein vorgab.
Er schwang das Schwert über dem Kopf und fing seine Spitze mit der linken Hand auf. Die Zartheit der Berührung überraschte ihn, obwohl ihn Andres Erinnerung darauf vorbereitet hatte.
»›Es gibt Feinde von außen‹«, sagte er, wobei er seine Stimme verstärkte, ohne laut zu wirken.
»›Und von innen‹«, erwiderte die Gemeinde.
Trotz seiner Angst hätte er beinahe gegrinst. Sie hatten keine Ahnung. »›Wir sind umgeben von Haß …‹«
»›… Habgier‹«, sagte die Gemeinde.
»›… Wollust…‹«
»›… Grausamkeit …‹«
»›… und schmerzlichem Verlust …‹« Er holte an der Stelle Atem, an der es auch Andre immer tat. Der Körper wußte das nicht, aber der Verstand. Er war entsetzt darüber, wie mechanisch der Gottesdienst ablief. Er senkte das Schwert mit beiden Händen, so daß die Klinge mit der flachen Seite zur Versammlung hin zeigte. »›Wir haben uns entschieden zu kämpfen, nicht mit Waffen …‹«
»›… und nicht mit Arglist …‹«, ergänzte die Versammlung.
»›… sondern mit dem Glauben.‹« Langsam senkte er das Schwert noch weiter, bis es flach auf dem Altar lag. Das herabfallende Licht reflektierte die winzigen Bilder, die auf der Klinge eingraviert waren. »Heute abend wird der Heiligste unsere Sorgen dem Ohr Gottes vortragen.«
Letzteres war kein Zitat aus den Geschriebenen und Ungeschriebenen Worten, sondern Bestandteil der Zeremonie, die vor Hunderten von Jahren vom Zwanzigsten Rocaan hinzugefügt worden war. Abermals hob Tel die Hände, diesmal ohne das Schwert. Die Ärmel seines Gewandes rutschten herab, entblößten seine nackten Arme. Die Versammlung ahmte seine Geste nach.
»Als der Roca um Gottes Ohr bat, betete er für die Sicherheit seines Volkes. Trotzdem wurden sie von Feinden bedrängt, und es sah aus, als erhörte Gott ihn nicht. Der Roca führte die Feinde an den heiligsten aller Orte, und dort bat er Gott, sie niederzustrecken. Da Gott es nicht tat, dachte der Roca daran, sie eigenhändig niederzustrecken, doch dann überlegte er: ›Hieße
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