Fey 03: Der Thron der Seherin
»Sie bewegt sich nicht mehr.«
Niemand antwortete. Seine Tochter gab keinen Laut von sich. Das Kind in ihr trat gegen Rugars Brust. Er hatte erst heute erfahren, daß sie wieder schwanger war.
Nicholas führte sie unter den steinernen Gewölben zu einem dunklen Seitengang. Plötzlich kam sich Rugar wie ein Dummkopf vor, daß er diesem Mann folgte.
»Der Ort muß absolut sicher sein«, sagte er. »Nur ein einziger Angriff und …«
»Und was?« fragte die Schamanin. »Das hier ist alles deinetwegen geschehen. Gestatte dem Jungen zumindest, daß er sich Sorgen um seine Frau macht.«
»Meinetwegen?« Vor lauter Überraschung wäre Rugar beinahe stehengeblieben. »Ich habe Jewel nicht verletzt. Ich habe sie nicht einmal berührt.«
»Ich habe dich gewarnt!« sagte die Schamanin. »Ich habe dir gesagt, daß du ihr erlauben solltest, Frieden zu schließen, und du hast dich nicht daran gehalten. Kein bißchen, Rugar. Es ist deine Blindheit, die uns alle hierher geführt hat.«
In dem Seitengang roch es nach geschmortem Fasan und gebackenem Brot. Nicholas führte sie weiter in Richtung Küche. In Nebengelassen waren Leute damit beschäftigt, zu buttern und Brotteig zu kneten. Weiter vorne ertönten Geräusche aus einem hell erleuchteten Raum.
»Du wußtest schon vorher, was geschehen würde, nicht wahr?« fragte Rugar. Er zog Jewel enger an sich. In der Dunkelheit konnte er ihr Gesicht nicht sehen. »Sag mir, wie alles enden wird.«
»Das kann ich nicht«, erwiderte die Schamanin.
»Visionäre können einander erzählen …«
»Rugar, ich hatte drei Visionen zum heutigen Tag.«
Unwillkürlich erschauerte Rugar. Drei Visionen. Dann gab es keine Gewißheit, wie der Tag enden würde. Auch Jewel hatte etwas Gesehen. Und der kleine Gabe.
Nur Rugar war Blind gewesen.
Während sie noch unter einem weiteren Gewölbe entlanghasteten, erteilte Nicholas bereits Anweisungen. »Wir müssen den Platz am Herd frei räumen und eine Matratze für meine Frau beschaffen. Alles Personal, das wir nicht brauchen, soll die Küche verlassen. Alle, die bleiben, müssen der Schamanin gehorchen.«
Die Inselbewohner stoben davon, um die Befehle auszuführen. Rugar registrierte flüchtig ihre breiten, bleichen Gesichter und die verstohlenen Blicke, die sie auf Jewel warfen. Sie roch nach verbranntem Fleisch. Viele Inselbewohner schlugen entsetzt die Hand vor den Mund, als sie sich abwandten.
Nicholas führte sie zu einem großen, steinernen Kamin, in dem ein gewaltiges Feuer loderte. Kessel hingen an eisernen Haken in den Flammen, und an den Seiten des Kamins befanden sich weitere Haken, um die Kessel aus dem Feuer zu nehmen. Ein weiß gekleideter Mann wischte den Boden rund um den Kamin, eine Frau schleppte eine nicht übermäßig saubere Federmatratze herbei.
Rugar war es gleichgültig. Er legte seine Tochter auf die Unterlage. Jewels Haar klebte so dicht an ihrem Kopf, daß ihr Schädel fast flach wirkte, und das Pulsieren auf ihrer Stirn hatte sich bis zu den Brauen ausgebreitet.
»Das Gift wirkt noch«, sagte Rugar.
»Ich weiß.« Die Schamanin beugte sich über Jewel. »Jemand soll zur Tür gehen und dort auf Burden warten, bis er mit dem Umschlag kommt. Sie muß aufwachen.«
Nicholas stand neben dem weißgekleideten Mann. »Bring meinen Sohn her. Ich will ihn in Sicherheit wissen.«
»Sire, es ist mir untersagt, die Küche zu verlassen.«
»Bring ihn her«, befahl Nicholas ungeduldig. »Auf der Stelle.«
Der Mann nickte und rannte davon. Jewels Bauch bebte wie die Meeresoberfläche. Rugar legte die Hand darauf, aber die Schamanin riß sie sofort weg.
»Du hast uns heute schon genug Ärger für ein ganzes Leben eingebrockt. Zurück mit dir.«
»Sie ist meine Tochter«, protestierte Rugar.
»Daran hättest du denken sollen, bevor du sie hierhergebracht hast.«
Rugar war sich nicht sicher, ob die Schamanin damit die Küche, den Palast oder die Insel selbst meinte. Aber er trat zurück. Ihm blieb keine andere Wahl. Bisher hatte noch niemand dieses Gift überlebt. Die Hüter hatten gesagt, man könne es verdünnen, aber Rugar war sich nicht sicher, ob sich dadurch der Tod verlangsamen oder gar verhindern ließ.
Jetzt kam Burden durch die Hintertür. Der Geruch des Umschlags in seinen Händen war intensiver als der Dunst des geschmorten Fasans. Er überreichte den Umschlag der Schamanin, die ihn auf Jewels Stirn legte.
»Wird sie wieder gesund?« fragte Burden.
»Erst einmal wird sie leben«, gab die Schamanin zurück.
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