Fey 05: Der Schattenrpinz
einmal auf die Probe zu stellen, Heiliger Herr.«
»Genehmigt«, erwiderte Titus. Er lehnte sich zurück und stemmte die Ellenbogen gegen die oberste Stufe. »Aber was ist, wenn die Geschichte des Jungen der Wirklichkeit entspricht? Wenn die Fey tatsächlich die Sümpfe erobert haben?«
»Ich frage mich, wie sie überhaupt dorthin gelangt sind. Die Berge sind unbezwingbar.«
»Die Fey sind gerissen«, wiederholte Titus. »Das habt Ihr selbst gesagt.«
»Das heißt noch lange nicht, daß sie Wunder vollbringen können«, widersprach Rusel.
»Vielleicht haben sie das Schattenland schon vor Monaten verlassen, das Weihwasser vertauscht und diesen Angriff nur vorgetäuscht, damit es so aussieht, als seien sie aus den Bergen gekommen.«
»Aber wozu, Heiliger Herr?«
»Damit wir in Panik geraten und uns in die Sümpfe begeben. Der Junge ist nicht in den Palast geflohen. Er ist zu uns gekommen.«
»Und er behauptet, die Fey hätten ihnen in der Kirche aufgelauert.«
Titus nickte. Er sah Rusel nicht an. Sein Blick ruhte auf einer Andachtsbank. Die Kerben vom Angriff der Fey vor so vielen Jahren waren noch immer deutlich im Holz zu sehen. »Sie haben ihn entkommen lassen.«
»Glaubt Ihr wirklich, daß der Palast dahintersteckt, Heiliger Herr?«
Titus zuckte die Achseln. »Der Tabernakel ist ihnen ein Dorn im Auge, oder?«
»Der König würde es niemals wagen, die Autorität des Rocaan in Frage zu stellen.«
»Das hat der König schon früher getan. Er wollte sich sogar einmal selbst zum Oberhaupt des Tabernakels erklären.«
»Aber das war unter dem Einundfünfzigsten Rocaan. Der Einundfünfzigste Rocaan war verrückt.«
»Wirklich, Rusel? Ich hatte nie diesen Eindruck. Ich würde eher sagen, gepeinigt an Körper und Seele. Und er haßte die Fey, mehr noch als wir alle.«
»Ich kann nicht glauben, daß Ihr das wirklich ernst meint, Heiliger Herr.«
Titus drehte sich um, stützte sich auf einen Ellenbogen und blickte zu Rusel auf. Das vormals bleiche Gesicht des Geistlichen war jetzt flammend rot. Immer noch umklammerte er den Altar. »Wäre Euch das Gegenteil lieber?«
»Daß der Junge lügt? Ja, Heiliger Herr.«
»Und wenn nicht? Würdet Ihr dann immer noch das Gegenteil vorziehen?«
Rusels Adamsapfel hüpfte, als er nervös schluckte. »Daß die Fey ungerufen kamen?«
Titus nickte.
»Das kann nicht sein, Heiliger Herr. Das Weihwasser hätte sie getötet.«
»Vielleicht haben sie eine Methode gefunden, ihm zu widerstehen. Vielleicht hat es keine Wirkung mehr auf sie.«
»Das ist unmöglich«, murmelte Rusel.
»Wir haben immer befürchtet, daß sie eines Tages ein Gegenmittel finden würden«, erinnerte ihn Titus.
»Wenn das wirklich stimmt …« Rusels Stimme brach ab.
»Dann werden sie uns töten«, ergänzte Titus. »Uns alle.«
6
Gabe verbarg sich hinter einer Säule im vierten Stock. Endlich befand er sich auf vertrautem Boden. Sebastians Gemächer waren ganz in der Nähe. Sebastian verließ diese Räume, die seiner Schwester und den Garten fast nie. Gabe wußte, daß er manchmal im königlichen Speisesaal seine Mahlzeiten einnahm, aber dort war Gabe noch nie bei ihm gewesen. Gabe kannte nur Sebastians eigene Gemächer und den Garten. Der Rest des Palastes war ihm ein Rätsel.
Hineinzugelangen war erstaunlich einfach gewesen. Gabe hatte einfach den Blick gesenkt und Sebastians unsicheren Gang nachgeahmt. Sein Körperbau war dem Sebastians zwar ähnlich, aber es drängte ihn, sich flinker zu bewegen. Niemandem schien etwas aufgefallen zu sein. Tatsächlich hatten alle Diener, denen er begegnet war, sich verneigt oder ihn gegrüßt. Gabe hatte sie nicht beachtet, genauso wie es Sebastian zu tun pflegte.
Etwas zu tun, was über das Nötigste hinausging, kostete Sebastian zuviel Kraft.
Doch jetzt kam der schwierige Teil der Unternehmung. Gabe mußte den Dienern ausweichen und, was noch wichtiger war, vermeiden, plötzlich im Korridor mit Sebastian selbst zusammenzustoßen. Niemand außerhalb des Schattenlandes, außer Solanda, wußte, daß in Wirklichkeit Gabe das Kind von Nicholas und Jewel war. Sie alle hielten Sebastian für einen lebendigen Menschen und ahnten nicht einmal, daß er eigentlich ein Golem war. Ein besonderer Golem zwar, aber mehr auch nicht.
Der Korridor war leer. Die Luft roch abgestanden, als würde der Gang nur selten benutzt. Die Säulen standen in der Mitte, jeweils eine hinter jedem Durchgang. An seinem Ende erweiterte sich der Korridor zu einer Galerie.
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