Fey 06: Die Erben der Macht
Vögeln und Vogelflügeln. Speichel tropfte ihm über das Kinn auf die Brust. Spatzenreiter hielten seinen Oberkörper aufrecht, indem sie ihre Krallen in sein Hemd schlugen. Sie rochen nach Schmutz und Rauch. Die Falkenreiter waren immer noch außer Kontrolle, trugen ihn weg vom Palast anstatt darauf zu. Hunderte von Vogelreitern umringten ihn. Er konnte den Boden nicht sehen.
Ein Hinterhalt.
Es war ein Hinterhalt.
Irgendwie hatte Nicholas seine Reiter in die Falle gelockt, und Rugad mußte ohnmächtig zusehen.
Zumindest im Augenblick.
28
Der aufgeschreckte Vogelschwarm überraschte Arianna. Sie trat einen Schritt vom Fenster zurück und stieß mit ihrem Vater zusammen. Er legte seine Arme um sie und hielt sie fest, während sie gemeinsam zusahen. Sebastian stieß einen leisen, ehrfürchtigen Seufzer aus.
Die Vögel stiegen steil in den Himmel, erfüllten die Luft mit ihren Flügeln, ihren Federn und ihrer Panik. Die Fey auf ihren Rücken schrien, ihre kleinen Münder klappten auf und zu, und sie ruderten verzweifelt mit den Armen, als könnten sie so den unkontrollierten Teil ihrer Vogelpersönlichkeit wieder zur Vernunft bringen.
Arianna konnte sich in ihre Gefühle hineinversetzen. Schon oft war sie nach einer Wandlung von dem instinktgeleiteten Teil des Tieres, dessen Gestalt sie angenommen hatte, überwältigt worden und hatte Dinge getan, derer sie sich als menschliches Wesen geschämt hätte, Dinge, an die sie nicht einmal jetzt denken mochte.
Es war auffallend still. Ihr Vater hatte den Wachen befohlen, den Überraschungsangriff so lautlos wie möglich einzuleiten. Den meisten Lärm verursachten die Vogelreiter. Die Vögel kreischten, krächzten und pfiffen vor Furcht, und das Rauschen von tausend Flügeln, die gleichzeitig flatterten, war gewaltig. Mit den Vögeln, die in den Himmel stiegen, erhob sich auch Ariannas Hoffnung. Mit einem Mal erschien die Situation nicht mehr so ausweglos. Vielleicht war es doch möglich, daß sie diesen Alptraum überlebten. Es war möglich.
Dann ertönte ein Schrei aus dem Hof. Noch nie zuvor hatte Arianna einen solchen Schrei vernommen. Ein gellender Ruf, der gleichzeitig aus hundert Mündern erscholl.
»Das sind die Wachen«, sagte ihr Vater und hörte sich sehr zufrieden an.
Einige der Vögel flatterten verwirrt gegen das Fenster, und ihre Klauen schlugen gegen das aufgeworfene Glas. Die Reiter auf den Rücken blickten ins Zimmer, versuchten vergebens, die Vögel wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sebastian wich vom Fenster zurück. Nicholas’ Arme schlossen sich noch enger um Arianna. Sie wollte ihn gerade bitten, vom Fenster wegzutreten, als …
… sich alles um sie zu drehen begann. Sie fühlte sich schwindlig, so wie es manchmal vorkam, wenn sie sich von einem kleinen Körper in einen großen Verwandelte. Sie blinzelte ein-, zwei-, dreimal …
… und befand sich plötzlich mit gezücktem Schwert in einem Zimmer. Ein älterer Fey saß auf einem Stuhl. Er sprach mit Sebastian – oder war es Gabe? –, der sehr besorgt aussah. Die beiden waren so in ihre Unterhaltung vertieft, daß sie nicht bemerkten, wie sich ein zweiter Fey mit einem Messer in der Hand näherte. Arianna stieß einen Warnruf aus, aber …
… Sebastian zerbarst …
… Gabe blutete …
… ihr Urgroßvater fiel zu Boden, in seinem Herzen steckte ein Messer …
… alles spielte sich gleichzeitig und zu verschiedenen Zeiten ab. Sie wollte Sebastian/Gabe zu Hilfe eilen, als sie erneut ein Schwindelgefühl übermannte …
… alles drehte sich, und sie befand sich am Ufer, neben einem gutaussehenden, blonden Mann, nur wenige Jahre älter als sie. Er hielt ihre Hände, blickte sie mit seinen blauen Augen an. Er beugte sich vor, um sie zu küssen …
… küßte sie …
… hatte sie geküßt …
… als Sebastian (oder war es Gabe?) den Kopf des blonden Mannes nach hinten riß und ihm ein Messer an die Kehle setzte. Sie schrie auf …
… und das Bild änderte sich zum dritten Mal. Sie war klein, viel zu klein für ein menschliches Wesen, und unter ihr saßen ihr Urgroßvater und Gabe in einem langen Boot. Ihr Arme waren müde – waren es Flügel? –, und sie beobachtete, wie die beiden an Land ruderten. Plötzlich tauchte ein riesiger Fisch aus dem Wasser auf, rammte das Boot, und Gabe wurde durch den Stoß ins Wasser geschleudert. Ihr Urgroßvater schrie, versuchte Gabe zu helfen, und brachte dabei fast das Boot zum Kentern. Arianna beobachtete die beiden einen
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