Fey 09: Die roten Klippen
würde ihre Kraft schon bald benötigen und sei dann nicht ausreichend gewappnet.
Davor hatte Arianna ebenfalls Angst.
Gabe hatte sich erhoben und erneut den Finger an die Lippen gelegt. Er war hoch aufgewachsen und schlank und ähnelte Sebastian, seinem Wechselbalg. Normalerweise handelte es sich bei einem Wechselbalg um ein Wesen, das nur wenige Tage existieren konnte, aber in diesem Fall hatte es sich zu einem mächtigen Golem entwickelt. Sebastians Körper war voller Risse und Spalten, und er bewegte sich sehr langsam. Gabes Bewegungen waren geschmeidig, seine Gedanken von quecksilbriger Lebhaftigkeit, als verändere er sich von einem Augenblick zum anderen.
Außerdem hatte Gabe blaue Augen.
Coulter sagte, er sehe aus wie eine männliche Ausgabe von Arianna.
Auch Arianna selbst mußte sich widerwillig diese Ähnlichkeit eingestehen. Es bestand kein Zweifel an ihrer engen Verwandtschaft. Alles, was sie taten, schien sich zu gleichen. Arianna wußte, daß sie dieselbe anmutige Eleganz ausstrahlte wie ihr Bruder, und das gefiel ihr ganz und gar nicht.
Im Augenblick schien es jedoch, als würden sie zusammenarbeiten, als triebe sie und ihren Bruder der gleiche Gedanke voran. Trotz seiner Angeberei, trotz der Tatsache, daß Gabe ein richtiger Fey war, entsetzten ihn die Veränderungen in seinem Leben nicht minder als Arianna.
Diese Erkenntnis traf Arianna wie ein Schlag. Sie schüttelte unwillig den Kopf und versuchte, den Gedanken zu verscheuchen. Gabe, der offenbar dachte, sie sei wieder einmal anderer Meinung als er, blickte sie stirnrunzelnd an. Arianna legte daher ebenfalls einen Finger an die Lippen und nickte.
Jetzt erhob sich Coulter. Er berührte Gabes Arm, aber Gabe machte eine abwehrende Bewegung. Die beiden hatten ein seltsames Verhältnis. Arianna verstand nicht, was zwischen ihnen vor sich ging. Weder Gabe noch Coulter hatten bis vor zwei Tagen in ihrem Leben eine Rolle gespielt, und plötzlich war ihre Gegenwart so intensiv, daß sie sich nicht vorstellen konnte, warum sie ihnen so lange aus dem Weg gegangen war.
Coulter kam jetzt zu Ariannas Schlafstatt und machte dabei einen Bogen um den schnarchenden Fledderer, der sich grunzend auf die andere Seite drehte. Er schlief ohne Decke auf dem kalten Marmorboden. Coulter sah grinsend auf ihn hinunter und ging dann neben Arianna in die Hocke.
»Alles in Ordnung?« flüsterte er fragend.
Arianna nickte. Er strich ihr über die Finger. Ein Schauer durchfuhr sie. Es gefiel ihr, wie seine Hände sich anfühlten, warm und kräftig zugleich. Alles an ihm gefiel ihr. Am Nachmittag hatte sie das ihrem Vater gegenüber erwähnt, und König Nicholas hatte eine besorgte Miene aufgesetzt.
Das kommt sicher daher, daß er dir das Leben gerettet hat, mein Kleines, hatte er geantwortet.
Daran hatte Arianna auch schon gedacht. Aber irgendwie war es nicht die richtige Erklärung. Ihre Erfahrungen mit den beiden anderen Menschen, die in ihren Geist eingedrungen waren – ihr Urgroßvater und Sebastian –, hatten genau den Erfahrungen entsprochen, die sie im wirklichen Leben mit ihnen gemacht hatte. Beide waren genauso gewesen wie in der Wirklichkeit, nur etwas ausgeprägter, reiner, wie auf das wahre Wesen ihrer Persönlichkeit konzentriert. Warum sollte es mit Coulter anders sein?
»Weißt du, was geschehen ist?« flüsterte sie.
Coulter schüttelte den Kopf. »Nein, aber irgend etwas hat uns geweckt.«
»Nur wir drei verfügen über magische Kräfte«, sagte Arianna.
Er nickte. Daran hatte er offenbar auch gedacht. Ariannas Magen zog sich zusammen. Sie war noch nicht für etwas Neues bereit. Sie hatte sich noch nicht ausgeruht und fühlte sich noch immer sehr schwach.
Coulter nahm ihre Hand und legte die seine darüber. »Dir wird nichts geschehen«, versicherte er. »Ich verspreche es.«
Konnten Zaubermeister Gedanken lesen? Davon hatte sie noch nichts gehört, aber so sehr viel verstand sie auch nicht von Magie. Ihr Vater hatte versucht, ihr etwas darüber zu erzählen, aber er verfügte selbst über keinerlei magische Kräfte. Die Schamanin hatte keine Anstalten gemacht, Ariannas Unwissenheit zu beseitigen, aber immerhin hatte sie einige ihrer Fragen beantwortet. Solanda, die Gestaltwandlerin, die Arianna erzogen hatte, hatte versucht, ihr etwas über Magie beizubringen, aber damals hatte Arianna sich meist geweigert zuzuhören.
Aus lauter Trotz.
Jetzt wünschte sie, sie hätte zugehört.
»Ich mache mir keine Sorgen um mich«, erwiderte sie, obwohl
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