Fey 09: Die roten Klippen
ein.
»Vielleicht gelingt es uns ja wirklich, den Fey vorzutäuschen, wir hätten hier oben eine ganze Armee.«
»Wenn sie es für eine Fey-Armee halten, werden sie zumindest zögern, uns anzugreifen«, setzte Leen hinzu.
»Sogar wenn sie glauben, daß die Armee aus Versagern besteht?« meinte Gabe skeptisch.
Alle verstummten. Sie alle wußten von Gabes und Leens Verlusten, wußten, wie grausam Rugad alle Fey der ersten Invasion hatte abschlachten lassen. Damals, im Schattenland.
»Versager, die zu kämpfen verstehen, sind viel gefährlicher als friedliebende, unerfahrene Inselbewohner«, meinte Jewel.
»Auch manche Inselbewohner verstehen zu kämpfen«, warf Adrian ein.
Jewel nickte. »Deswegen sollte Coulter auch dich vervielfachen. Dann kannst du dich mit Leen bei der Verteidigung abwechseln. Auf diese Weise bekommt ihr beide ab und zu etwas Schlaf.«
»Glaubst du wirklich, daß wir noch Zeit haben werden zu schlafen?« fragte Leen skeptisch.
Jewel drehte sich nach ihr um. Hätte Leen ihr Gesicht sehen können, wäre sie bestimmt ein paar Schritte zurückgewichen. Nicholas kannte diesen Blick: Es war Jewels ungläubiger »Ich-kann-nicht-glauben-daß-du-so-etwas-fragst«-Blick. In bezug auf Leen bedeutete er, daß Leen sich nach Jewels Meinung nicht verhielt wie eine richtige Fey oder wie jemand, der die Bezeichnung Fey verdiente.
»Die meisten von uns haben keine Kampferfahrung«, beschwichtigte Gabe seine Mutter. Also hatte auch er Jewels Blick richtig interpretiert, obwohl er sie kaum kannte.
»Hat denn wenigstens einer von euch eine Kampfausbildung?«
»Leen«, antwortete Gabe.
»Für den Kriegszustand ausgebildet?«
»Die Blaue Insel war bis jetzt noch nie im Kriegszustand.«
Jewel wandte sich ab. Nicholas’ Blick begegnete ihrem. Daß es auf der Blauen Insel bis jetzt keinen Krieg gegeben hatte, lag an ihrer Vermählung, bei der beschlossen worden war, daß die Fey so lange friedlich mit den Inselbewohnern zusammenleben und sich mit ihnen vermischen sollten, bis sie schließlich zu einem Volk geworden waren. Einem Volk, das zwar zum Imperium der Fey gehörte, sich den Fey aber nicht unterworfen hatte.
Einem Volk, das ein Abkommen mit ihnen geschlossen hatte.
Ein Abkommen, dessen Einhaltung Matthias und Jewels Vater verhindert hatten.
Jewel seufzte. Nicholas spürte, daß sie genauso traurig war wie er, wenn er an all die verpaßten Möglichkeiten dachte.
»Es herrscht immer Kriegszustand«, sagte Jewel schließlich. »Jedenfalls aus der Sicht der Fey.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Das kannst du ihr ruhig übersetzen«, forderte sie Gabe auf.
Der nickte und gehorchte.
Leen verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. »Ich verstehe nicht, warum sie mir meine Frage derartig übelnimmt«, beschwerte sie sich.
Auch Nicholas begriff das nicht ganz.
Jewel offenbar schon.
»Den Zeitpunkt einer Schlacht kann man sich nicht immer aussuchen«, sagte sie. »Wir sind hier in der Defensive. Wir befinden uns an einem Ort der Macht. Einer von uns hat einen Zaubermeister getötet. Mein Großvater wird uns nicht irgendwelche Soldaten vorbeischicken. Das kann er sich gar nicht leisten. Bestimmt weiß er, daß Nicholas und seine Urenkel hier sind. Und er wird davon ausgehen, daß auch die Schamanin noch am Leben ist. Diese Umstände erfordern einen ausgeklügelten Plan und ein äußerst geschicktes Vorgehen. Einen solchen Plan zu entwerfen kann Tage dauern.«
»Du glaubst also nicht, daß er bald hier sein wird?« fragte Fledderer ungläubig.
»Vielleicht«, erwiderte Jewel vage, »vielleicht auch nicht.«
»Aber je länger er zögert, desto besser können wir uns doch auf den Angriff vorbereiten«, wandte Adrian ein.
Jewel lächelte. »So funktioniert das nicht immer. Vielen Leuten fällt es schwer zu warten, besonders, wenn sie innerlich bereits auf einen Angriff eingestellt sind. Nach ein paar Tagen verlieren sie ihre Antriebskraft. Sie werden nervös und unvorsichtig. Außerdem gibt es an einem Ort wie diesem vielleicht nicht genug Vorräte, und auch das schwächt die Verschanzten. Wovon sollen wir leben, wenn er uns wochenlang belagert?«
»Wir haben genug zu essen«, meinte Fledderer.
»Für ein paar Wochen vielleicht«, räumte Jewel ein. »Aber für Monate? Oder für ein Jahr?«
»Rugad wird nicht ein ganzes Jahr lang abwarten«, widersprach Coulter.
»Vielleicht doch«, erwiderte Jewel. »Gerade weil wir nicht damit rechnen. Denn dann sind wir mürbe vom langen
Weitere Kostenlose Bücher