Fey 09: Die roten Klippen
verheimlichen. Er hatte sie als Nachfolgerin von Weißhaar ausgewählt, nachdem dieser ihn hintergangen hatte. Am Tag, als Rugad Selia zu seiner rechten Hand ernannt und kurz bevor er ihr seine Entscheidung mitgeteilt hatte, hatte er ihr befohlen, dabei zuzusehen, wie einer der Fußsoldaten Weißhaar die Zunge herausriß. Dies war die schrecklichste Strafe für einen Hexer, schlimmer noch als der Tod. Die Magie eines Hexers bedurfte seiner Fähigkeit zu Sprechen, er war darauf angewiesen, andere durch seine Wortgewandtheit von seinen Ansichten zu überzeugen. Visionäre wie Rugad waren gegen den Zauber eines Hexers immun, deshalb waren Hexer so gute Adjutanten. Sie konnten alle überzeugen außer ihrem eigenen Vorgesetzten.
Rugad neigte den Kopf ein wenig. Wenn er die Augen zusammenkniff, konnte er die gezackten Umrisse des Feuers erkennen, in dem tatsächlich etwas verbrannte. Sein anschließender Seufzer zeugte von abgrundtiefer Abscheu.
Diese Welle war sehr mächtig gewesen, mächtiger, als Rugad erwartet hatte. Für Inselbewohner hätte es eigentlich unmöglich sein müssen, das Versteck zu entdecken und zu zerstören. Rugad hatte vor jedem Versteck Wachen postiert, ein normaler Routinevorgang.
Wachen.
Infanterie. Der Magie unkundig.
Rugad preßte die Hände zusammen. Natürlich. Diese Anordnung hatte er deswegen gegeben, weil er sich aus seinen Kindertagen daran erinnerte, daß die Beutel zaubermächtige Benutzer verletzen konnten, insbesondere die Ausgebildeten unter ihnen, wie die Hüter oder Hexer. Infanteristen hingegen waren nicht gefährdet, weil sie noch nicht im Besitz ihrer Zauberkräfte waren.
Seinen Leuten war also nichts zugestoßen.
Nur das Lager war vernichtet.
Glücklicherweise hatten die Inselbewohner keine Ahnung, was sie da angerichtet hatten, sonst hätten sie das Chaos ausgenutzt und den Palast angegriffen. Sie hätten versucht, irgendwie zum Schwarzen König vorzustoßen und ihn gefangenzunehmen.
Alle Truppen, die Rugad auf der Insel stationiert hatte, befanden sich zu dieser Stunde im Zustand der Verwirrung. Gleich den Wellen, die der Sturz eines Felsbrockens in einen stillen Teich auslöst, hatte sich die Woge ausgebreitet. Jedenfalls war es beim letzten Mal so gewesen. Die Wellen waren immer flacher und ihre Abstände voneinander immer länger geworden, je weiter sie sich vom Ausgangsort entfernten, aber alle Fey auf Galinas hatten die Auswirkungen gespürt.
Die Fey auf der Blauen Insel würden es ebenfalls spüren.
Derjenige, der diese Woge ausgelöst hatte, hatte einen größeren Schaden angerichtet, als er ahnte.
Rugad fluchte leise. Selia stand starr und seiner Befehle harrend neben ihm, als könne sie durch ihre aufmerksame Haltung seine Stimmung verbessern.
Eigentlich hatte Rugad vorgehabt, sämtliche verfügbaren Truppen zu den Blutklippen zu schicken. Er hatte bereits eine Einheit der Infanterie dort stationiert, aber die Hexerin, die sie führte, hatte er angewiesen, es zunächst einmal mit Diplomatie zu versuchen. Sollte ihr dies nicht gelingen, was Rugad nicht einschätzen konnte, hatte die Infanterie anzugreifen. Er hatte gehofft, selbst mit einer gewaltigen Verstärkungstruppe dazuzustoßen und den Inselkönig und seine Familie aufzufordern, sich zu ergeben.
Er konnte sie natürlich nicht töten. Das würde den Terror des Blutes über alle bringen. Wenn Schwarzes Blut gegen Schwarzes Blut die Hand erhob, brachen Chaos und Wahnsinn aus, eine Katastrophe, die sich nicht einmal Rugad vorzustellen vermochte. Es war bereits einmal geschehen, vor langer Zeit, als sich das Reich der Fey noch nicht über die halbe Weltkugel erstreckt hatte. Schwarzes Blut hatte sich gegen sich selbst im Kampf erhoben, die Fey waren wahnsinnig geworden und hatten wahllos jeden, der ihnen entgegentrat, niedergemetzelt, ohne vor dem eigenen Volk haltzumachen.
Nur ein Fey unter zehn war damals mit dem Leben davongekommen. Fey oder ein anderes Volk, es spielte keine Rolle. Auf einen Überlebenden kamen neun Tote.
Damals waren nur dreitausend gestorben. Passierte so etwas jetzt noch einmal, mußten Millionen von Menschen mit dem Leben bezahlen.
Rugad hatte gehofft, Nicholas so entschlossen und unbarmherzig nachzusetzen, daß dem Mann keine andere Möglichkeit bliebe, als sich zu ergeben. Rugad hatte die Truppen auf der Blauen Insel verstärkt. Seine Armee war so gewaltig, daß auch nach der Eroberung der Insel noch genügend Truppen übrig sein würden. Jetzt stellte Rugad fest, daß er
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