Fey 09: Die roten Klippen
bleiben. Constantia trieb zwar auch Handel mit anderen Bergdörfern, aber der Warenaustausch verlief zunehmend schleppender. Für andere Güter außer Nahrungsmittel gab es kaum Nachfrage.
Eines Tages würden sie ihre Handelsbeziehungen auf den Rest der Insel ausweiten müssen. Das wußte Pausho, und sie hatte versucht, es auch den anderen Weisen klarzumachen. Aber sie hatten ihr gar nicht richtig zuhören wollen, und sie hatten recht damit. Das Beste an Constantia und den übrigen Bergdörfern war ihre Abgeschiedenheit. Sie fühlten sich dem Rest der Insel nicht richtig zugehörig.
Auch andere Leute, die an Pausho vorübergingen, sahen kränklich aus. Die meisten waren blasser als sonst, und einige machten besonders entschlossene Gesichter, als müßten sie sich genauso zusammennehmen wie sie, um sich auf den Beinen zu halten. Vielleicht war diese Übelkeit ansteckend. Vielleicht war es eine Seuche, die die Langen vor drei Tagen eingeschleppt hatten.
Pausho seufzte. Inzwischen war alles möglich. Die Welt veränderte sich so schnell, daß sie nicht mehr folgen konnte. Früher wäre niemals jemand den Weisen beigetreten, um deren Regeln anzufechten, so wie Tri es getan hatte. Früher hätte man so jemanden auch nicht einfach wieder austreten lassen.
Er hätte sterben müssen.
Wieder drehte sich ihr der Magen um. Das starke Unwohlsein vom Morgen hatte zwar nachgelassen, aber Pausho hatte das Gefühl, daß diese erste Welle ihren Körper so aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, daß er nicht wieder zur Ruhe kam. Zuletzt hatte sie sich vor vielen Jahren, während ihrer Schwangerschaft, so gefühlt.
Sie schreckte vor der Erinnerung zurück, aber sie war bereits von ihr überwältigt: Die Erinnerung an ihre großgewachsene, neugeborene Tochter, die sie nur einen Tag lang in den Armen hatte halten dürfen, bevor die Weisen an ihre Tür geklopft hatten.
Zwanzig Jahre war sie damals erst alt gewesen. Ihr Mann hatte sie am folgenden Tag verlassen, und sie war allein geblieben, aus Angst davor, noch einmal ein Kind zu bekommen, das vielleicht wieder so groß sein würde wie jenes niedliche, rothaarige Mädchen, das sie ihr weggenommen hatten.
Unwillkürlich füllten sich Paushos Augen mit Tränen. Sie mußte blinzeln. Das alles war schon lange her. Sie wußte gar nicht, warum es ihr gerade jetzt einfiel. Sie hatte ihr Leben gelebt, war selbst eine Weise geworden und hatte festgestellt, daß es fast schwerer für sie war, einer jungen Mutter das Neugeborene wegzunehmen, als es für die Mutter war, das Kind herzugeben.
Aber Pausho glaubte an das Gesetz. Sie mußte daran glauben. Das hatte man sie gelehrt, das war alles, was sie wußte. Und an jenem Tag, an dem sie die Höhle des Roca betreten hatte, hatte sie gemerkt, daß sie das einzig Richtige getan hatte.
»Alles in Ordnung?« Eine Frau, deren Name Pausho entfallen war, obwohl sie sie schon viele Jahre kannte, war stehengeblieben und legte der Älteren die Hand auf die Schulter.
Pausho lächelte schwach. »Ich habe einen anstrengenden Morgen hinter mir.«
»Das geht vielen so«, bestätigte die Frau. Sie war um die Vierzig und unverheiratet, wie so viele Frauen in Constantia. »An einer von den Buden wird ein Heiltee ausgeschenkt. Ganz umsonst. Ich hole gerade welchen für eine Freundin.«
Pausho fragte nicht nach, wer diese Freundin war. Dabei war sie sonst sehr neugierig. Sie ließ sich von der Frau zu der Bude führen.
Die Bude gehörte der Tochter einer ehemaligen Weisen. In dem gemauerten Herd hinter ihrem Stand flackerte ein kleines Feuer. Diese Frau war bekannt für das von ihr frisch zubereitete Essen, das sie zum größten Teil verkaufte. Die Reste verteilte sie unter jene, die zu krank oder zu alt waren, um sie sich selbst abzuholen. Sie war der gute Engel der ärmeren Stadtteile.
Jetzt reichte Paushos Führerin ihr eine Tasse, nahm selbst eine, wünschte Pausho lächelnd gute Besserung und verschwand in der Menge.
Die meisten Leute waren ungewöhnlich schweigsam an diesem Morgen, und viele von ihnen stellten sich nach Tee an. Pausho nippte, verzog bei dem bitteren Geschmack den Mund und spürte, wie eine wohltuende Ruhe sich in ihr ausbreitete. Die Übelkeit ließ nach, verschwand aber nicht ganz.
Pausho bedankte sich bei der Standinhaberin, ließ unaufgefordert eine Münze auf den Teller fallen und klemmte sich wieder ihren Korb unter den Arm.
Sie mußte ihre Einkäufe erledigen, Leute grüßen und Fragen beantworten. Danach mußte sie am
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