Fey 10: Das Seelenglas
Stampede zur Stadt überrannt worden waren. Sie hatte das Warten satt, ebenso wie die Fußsoldaten. Sie hatte es satt, vom Kampf ausgeschlossen zu sein, immer nur die Anführerin zu spielen, zuzusehen und sich unzulänglich zu fühlen.
Sie legte die Hand auf ihr Schwert.
Sie mußte jetzt unbedingt selbst etwas Blut vergießen.
Und sie würde jeden einzelnen vergossenen Tropfen genießen.
32
Erst kurz vor dem Palast sahen sie die ersten Soldaten. Luke und Con huschten in eine kleine Gasse und lugten um die Ecke.
Das Palasttor stand offen, doch dahinter waren Dutzende Infanteristen beim Exerzieren. Es sah aus, als seien sie eigens dazu da, jedem, der dem Palast zu nahe kam, vorzuführen, wie gut er bewacht war. Doch Luke hatte unterwegs mehrere Fey belauscht und dabei erfahren, daß der Schwarze König zum Kämpfen irgendwo in die Berge gezogen war, wo er König Nicholas festzunehmen gedachte.
Luke wußte nicht, wieviel davon reine Spekulation war, aber er schloß allein aus der Verlassenheit von Jahn, daß der Schwarze König tatsächlich weg war. Die Frage lautete nur: Hatte er Sebastian mitgenommen?
Con verfolgte die militärischen Übungen mit großen Augen. »Wenn schon draußen so viele sind, wie viele mögen sich dann drinnen aufhalten?«
»Genau das soll man sich bei diesem Anblick fragen«, erwiderte Luke. »Meiner Meinung nach nicht sehr viele.«
Con schüttelte den Kopf. »Durch diesen Haufen kommen wir nie durch.«
»Ich hatte auch nicht vor, durch die Vordertür hereinzuspazieren.«
Con sah ihn an. »Woran dachtest du denn?«
»Ich wollte mir erst einmal ansehen, mit wem wir es zu tun haben, und dann einen entsprechenden Plan entwerfen.« Luke schluckte schwer. »Wie viele Tote lagen in diesen Gängen, von denen du mir erzählt hast.«
Con sackte gegen die Hauswand. Er sah aus, als hätte ihm Lukes Frage sämtlichen Lebenswillen entzogen. »Hunderte. Vielleicht sogar noch mehr.«
»Alles Rocaanisten?«
»Die meisten«, flüsterte Con.
Luke schwieg. Demzufolge waren die Fey wohl dort unten bei der Ernte. Ihre Rotkappen arbeiteten tagelang, manchmal sogar wochenlang. »Die meisten Leichen waren schon verwest, richtig?«
Con schloß die Augen. Die Erinnerung war nicht sehr angenehm für ihn, aber Luke hatte nicht genug Zeit, um es ihm so leicht wie möglich zu machen. Wenn sie einen Plan aushecken wollten, brauchte er seine Antworten schnell.
»Auf der Seite vom Tabernakel schon«, sagte Con. »Die meisten sind dort drüben vor über einer Woche gestorben.«
Also standen die Chancen gut, daß in den Gängen noch Rotkappen am Werk waren. Andererseits, wenn der Schwarze König in die Berge und der Rest seiner Armee nach Süden gezogen waren, hatten sie die Rotkappen wahrscheinlich mitgenommen. Die Fey zogen frische Leichname den Verwesten jederzeit vor.
»Ich glaube, wir müssen in diese Tunnel hinunter«, sagte Luke.
»Aber wie? Da müßten wir ja zum Tabernakel zurück.«
»Es gibt bestimmt auch noch andere Zugänge.«
»Schon. Aber die kenne ich nicht. Ich habe meine Karte schon lange verloren.«
Die Infanterie kam aus dem offenen Tor herausmarschiert. Auf dem harten Pflaster hörten sich ihre Schritte wie Trommelschläge an.
»Ich glaube, anders kommen wir nicht in den Palast. Alle anderen Möglichkeiten dauern viel zu lange. Und sind zu riskant.«
»Warum wolltest du das von den Toten wissen?« fragte Con.
»Ich wollte herausfinden, wie viele Fey sich in den Gängen aufhalten.«
Con schwieg. Dann, als er Lukes Überlegungen nachvollzogen hatte, schüttelte ihn ein leichter Schauder.
»Du kannst nur raten«, sagte Con.
»Selbstverständlich«, erwiderte Luke. »Aber damit sind wir immerhin bis hierher gekommen, oder?«
Con antwortete nichts. Er schien irgendwie niedergeschlagen, als bedeutete die Rückkehr in die Tunnel für ihn eine Niederlage.
»Du sagtest doch, die Gänge führten unter dem Verlies hindurch«, sagte Luke.
Con hob den Kopf, als sei die Idee seinen eigenen Überlegungen entsprungen. »Genau! Glaubst du, Sebastian ist dort?«
»Jedenfalls ist es der perfekte Ort, um mit der Suche anzufangen«, erwiderte Luke. Dabei bezweifelte er, daß sie Sebastian dort unten finden würden. Er bezweifelte, daß irgend etwas so einfach für sie werden würde.
Nichts, was mit den Fey zu tun hatte, war einfach.
33
Nicholas ging zum Höhleneingang. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, was er niemandem gegenüber zugeben wollte, nicht
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