Fey 10: Das Seelenglas
seiner Wange. Sie verheilten endlich, auch seine Blutergüsse verblaßten. »Wenn du es nicht tust, tut es niemand.«
Er verneigte sich kaum merklich. Von den Weisen war niemand übriggeblieben. Er hatte die Tür zum Gewölbe verschlossen und wollte auch in Zukunft über ihre Geheimnisse wachen. Er hatte ihre Schätze niemandem mitgeteilt, würde es auch zukünftig nicht tun, jedenfalls nicht, bevor die Zeit kam, um einen neuen Wächter zu bestimmen. Er respektierte die Wünsche des Roca. Jetzt, nachdem er gesehen hatte, welche Kräfte er und Nicholas entfesseln konnten, begriff er besser, was der Roca befürchtet hatte. Der Roca hatte die Zukunft gesehen. Er hatte gewußt, was eine derartige Macht anrichten konnte. Sie konnte die Menschen in Geschöpfe verwandeln, die nur noch für die Magie und die Vorherrschaft lebten, die sie ihnen über nichtmagische Wesen verlieh.
Sie konnte sein Volk in Fey verwandeln.
Das hatte der Roca verhindert, und Matthias würde dafür sorgen, daß dem Wunsch des Roca weiterhin Folge geleistet wurde.
»Abgesehen davon«, sagte Marly, die sein Zögern nicht ganz verstand, »hast du das Blut des Roca in dir, und du bist der einzige lebende Rocaan. Ich glaube, Jakib würde sich geehrt fühlen, daß eine so wichtige Persönlichkeit seine Begräbniszeremonie durchführt.«
Matthias nickte und nahm das filigrane Schwert und die Kräuter, die er mitgebracht hatte, in die Hand. Dann ging er zum Grab und beugte sich darüber.
»Heiligster«, sagte er mit einer hallenden Stimme, die er seit seinen Tagen im Tabernakel nicht mehr benutzt hatte, »ich bin dein unwürdigster Diener. Aber ich bitte dich darum, nicht auf den Überbringer der Botschaft, sondern auf die Botschaft zu achten.«
Er hielt das Schwert über das Grab. »Segne die Geehrten Toten. Halte Jakibs Wesen in Ehren, und wir werden auch in diesen Gefilden sein Andenken in Ehren halten.«
Er verneigte sich und steckte die Klinge des winzigen Schwertes in den Boden, während seine Hand über die Erde strich. Dann erhob er sich, griff in den Beutel und verstreute die Kräuter über den Boden.
»So wie der Roca Gott ehrte, so auch du. So wie der Heiligste mit Gott sprach, so auch du. So wie Gott uns alle liebte, so auch dich. Du trittst wieder in den Kreislauf des Lebens ein, denn durch den Tod werden wir alle leben. Mit dem höchsten Segen des Roca übergebe ich dich dieser Erde. Möge der Heiligste deine Seele aufnehmen.«
Er legte die Handfläche auf die Erde, spürte die Fruchtbarkeit des Bodens unter den Fingern und wußte zum ersten Mal, wie sehr er Jakibs stille Kraft vermissen würde. Dann fühlte er eine Wärme neben sich. Marly hatte ihren Platz unter dem Baum verlassen. Auch sie berührte die Erde und neigte den Kopf.
Nichts würde mehr wie früher sein. Vom ersten Augenblick an, da die Fey vor mehr als zwanzig Jahren die Blaue Insel betreten hatten, hatten sie sie verändert. Sie hatten fünfzig Generationen friedlichen Zusammenlebens über den Haufen geworfen und mehr Aufruhr – inneren und äußeren – ausgelöst, als die Inselbewohner seit Jahrhunderten erlebt hatten.
Matthias vergrub sein Gesicht in Marlys weichem Haar. Trotz allem war es ihm gelungen zu überleben – all die Dinge, die er getan hatte, und alles, was ihm angetan worden war –, und er hatte sogar das hier, eine zweite Chance, sein Leben zu leben. Er würde sie ergreifen und in vollen Zügen genießen und niemals vergessen, um welchen Preis er sie errungen hatte.
Er küßte Marlys Kopf und hielt sie noch lange in den Armen, nachdem der Sonnenuntergang die blutroten Berge in Flammen gesetzt hatte und ihn an die Macht erinnerte, die ihm gemeinsam mit Nicholas gegeben war. Er hielt Marly fest umfangen, bis die Dunkelheit sich über das Land senkte und die Luft empfindlich kühl wurde.
50
Gabe fand Coulter auf der Tabernakelseite des Cardidas, wo er unweit der Jahnbrücke im Gras saß. Vor zwei Tagen waren sie nach Jahn zurückgekommen, aber die Stadt sah so anders aus als diejenige, die Gabe vor über einem Monat verlassen hatte, daß er sie kaum wiedererkannte. Wenn er durch die Straßen ging, nickten ihm die Fey zu oder verbeugten sich leicht. Sie wußten alle, daß er von Schwarzem Blut war. Seine Schwester hatte offiziell verkündet, daß sie den Schwarzen Thron besteigen würde, aber das schien keinen Unterschied zu machen. Sowohl die Fey als auch die Inselbewohner begegneten Gabe mit absoluter Ehrerbietung. Es lag daran, daß
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