Fey 10: Das Seelenglas
beobachtete er Nicholas, um zu sehen, ob sich zwischenzeitlich etwas an seinem Zustand änderte. Dann rannte er vier Stufen auf einmal nehmend die Treppe nach oben. Ein gelenkiger Mann. Nicholas verspürte den Wunsch, sich auch so geschmeidig zu bewegen.
- Ah. Wünsche.
Er hörte die Stimme und hörte sie doch wieder nicht. Es war eine schnarrende Männerstimme, die sich in der Höhle brach. Es fühlte sich an, als hätte er die Stimme mit dem Geist und nicht mit den Ohren gehört. Genauso wie er geschielt hatte, ohne die Augen zu bewegen.
- Noch nicht.
Diese Stimme gehörte einer Frau und war sehr leise. Er sah zur Decke der Höhle auf. Sie war gewölbt. Das war ihm vorher nicht aufgefallen. Gewölbt, mit Juwelen besetzt und von Gold durchzogen.
- Ich glaube, es ist Zeit.
Das sagte eine andere Männerstimme, alt, mißmutig und irgendwie vertraut, so als sei es eine Stimme aus Nicholas’ Kindheit. Nebelschwaden kringelten sich an der gewölbten Decke. Er hätte schwören können, daß sie vorher noch nicht dagewesen waren. Nebelschwaden.
Einzelne Nebelschwaden.
- Was ist mit den anderen? fragte die erste Stimme.
- Halt sie hin, antwortete die Frauenstimme.
- Ist das denn keine direkte Einmischung? warf die zweite Männerstimme ein.
- Wäre das denn von Bedeutung? meldete sich die Frauenstimme wieder.
Und dann war Stille. Tiefe Stille. Eine Am-Ende-der-Welt-Stille.
War er denn wirklich tot?
Die Nebelschwaden waren zahlreicher geworden und schwebten zu ihm herunter. Feuchtkalter Dunst legte sich auf sein Gesicht. Er schlug sich überall auf ihm nieder, bis Nicholas ganz von Nebel eingehüllt war.
Jetzt wo er sich außerhalb seines Körpers befand, wußte er plötzlich mit Gewißheit, daß Adrian Coulter nicht finden würde. Er würde das Tor zu den Schattenlanden nicht finden. Nicholas fühlte sich verloren.
War das die Einmischung, von der die Stimmen gesprochen hatten?
Was war falsch daran?
Der Nebel hob sich von ihm und ließ eine klamme Kälte zurück, die nur vor einem großen, warmen Feuer hätte vertrieben werden können. Aber er konnte sich noch immer nicht bewegen.
- Das hätte mir auffallen müssen, sagte eine andere Stimme. Wieder eine weibliche Stimme, jung und lebhaft. Seht euch sein Gesicht an.
- Das Gesicht? Den ganzen Körper! Wie sich die Geschichte doch wiederholt! war die andere Frauenstimme zu hören.
- Nun, bei ihm ist es Verschwendung. Habt ihr das Blut geprüft? fragte der erste Mann.
- Schon geschehen, antwortete der zweite. Vor Jahrhunderten schon. Das ist der direkte Nachfahre.
- Ich dachte, den hätten sie getötet, sagte noch eine weitere Frauenstimme.
- Nur einen von ihnen, mischte sich eine neue Männerstimme ein. Aber der Älteste hat überlebt.
- Er hat keine seiner Gaben eingesetzt.
- Das war klug.
- Klug?
- Vielleicht.
Es gab zahllose Stimmen, die an dieser Debatte teilnahmen. Männliche und weibliche und einige, von denen er nicht zu sagen vermochte, welches Geschlecht sie hatten. Die einzelnen Nebelschwaden schwebten noch immer an der Decke der Höhle. Sie schwebten schneller und schneller. Ihre Bewegungen waren fast so schnell wie ihre Unterhaltung.
- Wenn er schon gezeichnet ist, warum haben wir ihn dann trinken lassen?
- Hast du das denn nicht gelernt? Wir lassen sie nicht etwas tun! Er hat es frei gewählt, zu trinken.
- Und was tun wir jetzt? Dem nachhelfen, was bereits angelegt ist?
- Es würde eine neue Form schaffen.
- Das letzte Mal, als wir eine neue Form in den alten Körpern schufen, gab es Probleme unter den Menschen.
- Und diese Probleme sind schließlich gelöst worden.
- Nicht alle.
Nicholas wollte nach den Schatten greifen. Er hätte ihnen gerne Fragen gestellt, aber er wußte nicht, wie.
- Nein, sagte eine der Frauenstimmen. Nicht alle.
- Ich behaupte immer noch, daß es eine Gabe ist, für die sie nicht bereit sind.
- Und noch dazu eine, die nicht wir zu vergeben haben.
- Man sagt, andere hätten Gebrauch davon gemacht.
- Und es hat sie verdorben.
- Glaubst du wirklich, hier und jetzt ist Mißbrauch ausgeschlossen?
- Er wurde aufgehalten. Glaube ich jedenfalls.
- Also fangen wir noch einmal von vorne an?
Nicholas runzelte die Stirn. Wenn er blinzeln konnte, ohne die Augen zu bewegen, und hören, ohne die Ohren zu benutzen, dann konnte er bestimmt auch sprechen, ohne den Mund zu bewegen.
»He«, sagte er.
Die Nebenschwaden hielten in ihrem Wallen inne. Sie schwebten über ihm und bogen sich in der Mitte, so als
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