Fey 10: Das Seelenglas
erläutert, woraufhin der Zaubermeister die Fortsetzung des Experiments selbst beaufsichtigen wollte.
Landres Worte hatten Rugad in helle Aufregung versetzt.
Macht.
Kontrolle.
Zauberkraft.
Die Inselbewohner hatten Macht, aber die Fey hatten ihnen durch ihren überraschenden Überfall die Möglichkeit gegeben, sie auch unter Kontrolle zu bringen. Normalerweise besaßen sie keine Kontrolle darüber. Und wenn doch, dann war sie veraltet und nicht richtig verstanden worden.
Die Inselbewohner verfügten über magische Kräfte.
Und die Fey konnten sie in Zauberkraft umsetzen.
Rugad war schon so lange Soldat, daß er solche Feinheiten manchmal übersah.
Gerade als er die Große Empfangshalle verlassen wollte, um Selia zu suchen, wäre er beinahe mit ihr zusammengestoßen. Ihr folgte ein weiterer Irrlichtfänger, der aussah, als habe er sich durch etliche Fluten, Stürme und Flammen den Weg nach Jahn durchkämpfen müssen. Seine Flügel waren zerrissen, sein Gesicht mit Schmutz bedeckt. Unter einem Auge leuchtete eine lange Schramme, wo ihn während des Fluges etwas getroffen haben mußte, und er schien den linken Arm zu schonen.
»Können wir dich einen Augenblick sprechen«, fragte Selia Rugad. Sie sah blaß aus, und ihr Gesicht war beinahe genauso verzerrt wie vor ein paar Tagen, als er sie kennengelernt hatte.
»Ich nehme an, allein«, sagte er und ging ihnen voran in den Audienzsaal des Königs.
Er haßte diesen Raum. Hier war er fast gestorben, und obwohl seine Leute sein Blut vom Boden aufgewischt hatten, konnte er es immer noch fühlen, wie einen dunklen Flecken, der sein ganzes Wesen überschattete. An den Schmerz in seiner Kehle beim Sprechen hatte er sich zwar gewöhnt, aber hier drin schien er immer neu aufzuflammen. Genauso wie die Prellungen, die ihm der Golem bei dem Versuch, ihn zu töten, zugefügt hatte.
Trotzdem hatte er diesen Saal noch einige Male benutzt, weil er groß war und sehr nah an wichtigen Bereichen des Palastes lag.
Der Tisch, den Rugad für die Besprechungen mit seinen Generalen benutzt hatte, war noch vor dem Morgengrauen in den Nordturm gebracht worden. Jemand hatte anderes Mobiliar hereingeschafft, vielleicht um es hier aufzubewahren. Mehrere Stühle, die aus ganz anderen Teilen des Schlosses stammten, standen kreuz und quer auf dem Boden und wirkten in diesem offiziellen Rahmen zu klein und fehl am Platz. Er setzte sich trotz allem auf einen der Stühle und schob dem Irrlichtfänger einen gepolsterten Fußschemel zu. Er ließ sich so vorsichtig nieder, als bereite ihm allein diese Bewegung ungeheure Schmerzen.
Selia blieb stehen, bis Rugad ihr mit einem Zeichen zu verstehen gab, sich ebenfalls zu setzen.
»Das Schlimmste zuerst«, forderte Rugad den Irrlichtfänger auf.
»Man hat mir befohlen, in einer bestimmten Reihenfolge zu berichten.« Die Stimme des Irrlichtfängers klang kratzig und rauh, als hätte die Erschöpfung ihm jede Kraft genommen.
»Das ist mir egal«, sagte Rugad herrisch. »Ich will das Schlimmste zuerst wissen. Dann kannst du mir den Rest erzählen.«
Der Irrlichtfänger schloß die Augen. Seine Augenbrauen berührten sich über der Nasenwurzel und formten ein geflügeltes Wesen in seiner oberen Gesichtshälfte. Für einen Fey besaß er einzigartige Gesichtszüge. Sie waren zwar eckig und markant, wie bei anderen Fey, aber so geformt, daß sie ihm ein vogelähnliches Aussehen verliehen. Er wirkte weniger zerbrechlich als andere Irrlichtfänger.
»Verzeih mir«, flüsterte er.
»Ich mache dich nicht für den Inhalt der Nachricht verantwortlich«, versprach Rugad, der bereits ahnte, daß sie wirklich schlecht sein mußte. Sehr schlecht sogar. Die Boten sahen immer nur dann so schlecht aus, wenn sie befürchteten, für ihre Nachricht bestraft zu werden.
Der Irrlichtfänger schluckte. Sein Adamsapfel bewegte sich so mühsam, als müsse er trockenen Husten durch Schlucken unterdrücken.
»Hol ihm etwas zu trinken«, sagte Rugad leise zu Selia.
Sie nickte, stand auf und ging hinaus.
Der Irrlichtfänger holte tief Luft, öffnete die Augen und sah ihr nach. Dann drehte er sich zu Rugad um. Ihre Blicke trafen sich. Rugad hatte noch nie mit diesem Irrlichtfänger gesprochen, daran hätte er sich erinnert.
Nur sehr wenige Fey wagten es, ihn anzusehen, als seien sie ihm ebenbürtig.
Doch vielleicht hatte erst die Nachricht den Irrlichtfänger so kühn gemacht.
»Boteen ist tot«, sagte der Irrlichtfänger.
Und Rugad, der sich auf das Schlimmste gefaßt
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