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Fey 10: Das Seelenglas

Fey 10: Das Seelenglas

Titel: Fey 10: Das Seelenglas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristine Kathryn Rusch
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würde ihm ins Auge sehen müssen. Genaugenommen tat er das ja schon, denn er versuchte, ihn einzugrenzen. Er fragte sich, wie schleichend er wohl war.
    Und plötzlich verstand er.
    »Du hast unrecht«, sagte er leise. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und betrachtete die Wandteppiche eingehend. Trotz der großen Entfernung konnte er die einzelnen Bilder genau erkennen. »Der Wahnsinn wird sich trotz allem ausbreiten.«
    »In der Familie des Königs sind keine Fälle davon aufgetreten.«
    »Soweit wir wissen, nicht«, entgegnete Matthias.
    »Du sprichst von den Kindern, nicht wahr?« sagte sie mit zitternder Stimme. »Das ist nicht richtig. Es existierte ein Brauch, der …«
    »Schon seit Generationen. Ich weiß«, unterbrach sie Matthias. »Aber er wird nicht in den Worten erwähnt.«
    »Doch, das wird er!« Sie stand jetzt neben ihm. »Du hast gesehen, daß der Roca uns dazu angehalten hat, seine Nachfahren dem Berg zu übergeben.«
    »Genauso steht es nicht da«, widersprach Matthias. »Die Alte Inselsprache war darin sehr genau: ›Bringt meine Kinder zur Höhle. Wenn das fehlschlägt, dann bringt ihre Kinder und deren Kinder.‹«
    »So, daß meine Linie hier endet«, fügte sie hinzu.
    »So, daß meine Linie hier endet«, wiederholte Matthias. »Aber nicht: … ›daß sie hier stirbt.‹ Es verhält sich ganz anders. Ein Mensch kann hier sein ganzes Leben verbringen, ohne irgend jemandem zu schaden. Das war der wahre Zusammenhang. Das war es, was der Roca sagen wollte.«
    »Aber er hat gesagt, seine Linie dürfe nicht fortgesetzt werden.«
    »Nein. Er hat gesagt, daß die Zauberkraft nicht weitergeführt werden und die Macht nicht aus der Höhle weggetragen werden dürfe. Er hat gesagt, daß alle die, die sie nach außen tragen, nicht Gottes Macht in sich haben, sondern die der Dämonen darüber. Diejenigen, die sie nach außen tragen, Pausho. Das bedeutet, daß jemand hier drin sie in sich trägt. Der Roca hat vorgesehen, daß seine Familie in dieser Höhle leben soll. Sie sollten sie vielleicht so lange bewachen, bis die Linie ausgestorben war.«
    Sie stieß einen Schrei aus, wie er noch nie zuvor einen gehört hatte. Dann sank sie auf die Knie, die Arme um den Körper geschlungen, den Kopf tief gesenkt.
    Er hatte schon immer gehofft, sie einmal geschlagen zu sehen. Sein ganzes Leben lang hatte er auf die Bestätigung ihrer Fehler, der Fehler der Weisen, gehofft. Doch jetzt, da es soweit war, jetzt, wo sie am Boden zerstört vor ihm lag, fühlte er sich leer.
    Er kniete neben ihr nieder und legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte vor ihm zurück. »Dir ist es so beigebracht worden«, sagte er zu ihr. »Die anderen Weisen haben es dir so beigebracht.«
    Sie nickte nur. Sie sah dabei nicht auf, sondern saß einfach nur bewegungslos da. »Ich habe … Ich habe …«
    »Du hast unzählige Kinder zur Schneegrenze getragen«, vollendete er ihren Satz. »Ich weiß, aber man hat dich gelehrt, es müsse so sein.«
    Sie hob das Gesicht und sah ihn an. Er hatte noch nie eine solche Qual in einem Gesicht gesehen. Noch nie. Nicht in all den Jahren des Tabernakels und auch nicht in den Jahren seither.
    »Was habe ich nur getan?« flüsterte sie.
    Zuneigung würde ihr jetzt nicht helfen. Er wußte das und sie auch. Trotzdem verlieh er seiner Stimme einen freundlichen Ton, um die Grausamkeit seiner Worte zu mildern. »Du hast gemordet im Namen Gottes, weil man dich gelehrt hat, daran zu glauben, daß es das Richtige ist.«
    »Aber ich hätte wissen müssen, daß …«
    »Das, was am offensichtlichsten ist, ist nicht immer am einfachsten«, sagte er.
    Er wußte das sehr wohl, denn er hatte den gleichen Fehler begangen.
    Er half ihr aufzustehen, und sie stützte sich so fest auf ihn, daß er beinahe ins Wanken geriet.
    »Komm weiter«, forderte er sie auf. »Du darfst jetzt nicht einfach aufhören.«
    »Aber was, wenn ich mich abermals irre?« fragte sie. »Was, wenn du dich irrst?«
    »Dann werden wir auch damit leben müssen«, antwortete er. »Genauso wie wir mit all dem anderen leben.«
    Sie stand aufrecht. Ihre Tränen waren getrocknet. »Das wird nicht ausreichen«, sagte sie.
    Er wußte es selbst und schloß die Augen.
    »Es ist alles, was uns bleibt«, flüsterte er. »Es ist alles, was uns bleibt.«

 
12
     
     
    Rugad wollte nicht länger warten, bis seine Leute einen Inselbewohner brachten, mit dem er seinen Versuch fortsetzen konnte. Nicht nach dieser Unterredung mit Landre. Er hatte Landre sein Vorgehen

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