Fieber
Ihnen auch dankbar für Ihre Bemühungen«, sagte Cathryn. »Aber …«
»Wir wissen selbst, wie drastisch sich das anhört«, gab Dr. Keitzman zu. »Aber wenn die gesetzlichen Regelungen erst einmal getroffen sind, muß die Vormundschaft ja nicht in Anspruch genommen werden. Es sei denn, die Umstände machen es zwingend notwendig. Aber dann, wenn Charles wirklich versuchen sollte, in Michelles Behandlung einzugreifen oder sie sogar aus dem Krankenhaus zu nehmen, dann wären wir in der Lage, etwas dagegen tun zu können.«
»Ein bißchen Vorsorge ist manchmal die halbe Heilung«, betonte Dr. Wiley.
»Ich fühle mich nicht wohl bei der Vorstellung«, sagte Cathryn. »Aber Charles ist wirklich sehr sonderbar gewesen. Ich hätte nie gedacht, daß er mich einfach so allein lassen würde, wie er es vorhin getan hat.«
»Ich glaube, ich verstehe Ihren Mann«, antwortete Dr. Keitzman. »Ich habe das Gefühl, daß Charles ein Mann der Tat ist. Und diese Situation, daß er überhaupt nichts für Michelle tun kann, muß ihn einfach verrückt machen, wenn ich so sagen darf. Sein Gemüt ist einer schrecklichen Belastung ausgesetzt, und deshalb glaube ich auch, daß ärztlicher Rat ihm nur helfen könnte.«
»Sie glauben doch nicht, daß er einen Nervenzusammenbruch bekommen kann?« fragte Cathryn mit wachsender Angst.
Dr. Keitzman sah fragend zu Dr. Wiley, ob er antworten wolle. Dann fuhr er selbst fort. »Ich fühle mich nicht berufen, das genau sagen zu können. Aber sicherlich ist die Belastung gegeben. Es ist eine Frage seiner Widerstandskraft, wie groß sie ist.«
»Ich halte es jedenfalls für möglich«, ergänzte Dr. Wiley. »Ich glaube auch, bestimmte Symptome sehen zu können, die dafür sprechen. Er scheint seine Gefühle nicht mehr kontrollieren zu können, und seine Wutausbrüche empfinde ich als völlig unangemessen.«
Cathryns Gefühle waren in wilder Aufruhr. Die Vorstellung, daß sie sich zwischen Charles und seine Tochter stellen sollte, zwischen den Mann, den sie liebte, und Michelle, die ihre Liebe gerade erst angenommen hatte, diese Vorstellung war undenkbar. Aber wenn die Last doch zu groß für ihn war und er Michelles Behandlung unterbrechen würde, dann müßte auch sie einen Teil der Schuld auf sich nehmen, weil ihr der Mut gefehlt hatte, den Ärzten zu helfen.
»Angenommen, ich wäre einverstanden mit dem, was Sie mir vorgeschlagen haben«, sagte Cathryn. »Was müßte ich dann tun?«
»Einen Moment«, erwiderte Dr. Keitzman und griff zum Telefon. »Das kann Ihnen der Hausanwalt hier sicherlich besser erklären als ich.«
Noch bevor Cathryn begriffen hatte, was geschah, war das Treffen mit dem Anwalt des Krankenhauses beendet, und schon folgte sie ihm eilig zum Gerichtsgebäude von Boston. Er hieß Patrick Murphy. Seine Haut war voller Sommersprossen, und das helle Braun seiner Haare war so unbestimmt, daß es auch einmal rot gewesen sein konnte. Das auffallendste an ihm war jedoch seine Ausstrahlung. Er war einer jener seltenen Menschen, die jeder sofort mochte. Auch Cathryn war darin keine Ausnahme. Trotz ihrer Verwirrung hatten sein freundliches und offenes Wesen und sein gewinnendes Lächeln sie entzückt.
Cathryn wußte nicht einmal mehr sicher, wann genau aus dem Gespräch über eine hypothetische Situation eine beschlossene Sache geworden war. Doch war ihr die Entscheidung, hinter Charles’ Rücken die Vormundschaft für Michelle zu beantragen, so schwergefallen, daß es ihr nur recht gewesen war, wie unbemerkt alles vonstatten ging. Wie schon Dr. Keitzman hatte auch Patrick versichert, daß von den gesetzlichen Möglichkeiten nur in dem unwahrscheinlichen Fall Gebrauch gemacht werden würde, daß Charles versuchen sollte, die Behandlung von Michelle zu unterbrechen.
Trotzdem war Cathryn die ganze Sache noch immer nicht geheuer. Denn um noch rechtzeitig vor Amtsschluß um 16 Uhr im Gericht sein zu können, hatte sie nicht einmal mehr Zeit gehabt, sich von Michelle zu verabschieden.
»Hier entlang, bitte«, sagte Patrick und zeigte auf eine schmale Eisentreppe. Cathryn war noch nie im Gerichtsgebäude von Boston gewesen. Alles war ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Cathryn hatte etwas Großartiges, Symbolisches erwartet, das die Unerschütterlichkeit von Recht und Gesetz repräsentierte. Doch das Gericht, es stand bereits über einhundert Jahre, war nur schmutzig und niederdrückend. Aus Sicherheitsgründen mußte man das Gebäude auch noch durch das Kellergeschoß
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