Fieber
betreten. Cathryn wollte anfangs nicht glauben, daß die Eisentreppe, die sie hinaufstieg, der einzige öffentliche Zugang zum Gericht war. Dann erreichten sie die alte Haupthalle, und wenigstens hier war noch ein Schatten der ehemaligen Größe zu spüren. Die Halle war zwei Stockwerke hoch und von einer Rundbogendecke gekrönt. Die Stützpfeiler und der Fußboden waren aus Marmor. Doch der Putz an den Wänden war rissig und an vielen Stellen ausgeschlagen, und die kunstvoll gearbeiteten Stuckverzierungen sahen aus, als ob sie jeden Moment losbrechen und in die Halle hinunterfallen könnten.
Cathryn mußte sich beeilen, um Patrick wieder einzuholen, der schon an der Tür zum Vormundschaftsgericht wartete. Es war ein langer, schmaler Raum, der düster und verstaubt wirkte. Die rechte Seitenmauer war von Hunderten alter Holzpfeiler durchbrochen. Links stand ein langer, abgenutzter und zerkratzter Schalter, hinter dem ein Klüngel von Gerichtsangestellten plötzlich aus seinem Tagesschlummer zu erwachen schien, weil das Ende der Dienstzeit unaufhaltsam näher kam.
Cathryn hatte erwartet, daß der Raum vertrauenerweckend und beruhigend auf sie wirken würde. Sie hatte sich getäuscht. Statt dessen hatte sie das Gefühl, in eine morastige Falle der Bürokratie geraten zu sein. Aber Patrick ließ sie gar nicht erst zur Ruhe kommen. Er zog sie zu einem schmalen Schaltertisch am Ende des Raums.
»Ich möchte gerne einen Gerichtssekretär der Vormundschaftsabteilung sprechen«, sagte Patrick zu einer der gelangweilten Angestellten. Sie hatte eine Zigarette im Mundwinkel und ihren Kopf schräg auf die Schulter gelegt, damit ihr der Rauch nicht in die Augen steigen konnte. Die Frau zeigte auf einen Mann, der mit dem Rücken zu ihnen saß.
Der Mann hatte Patricks Bitte dennoch gehört und drehte sich zu ihnen herum. Er telefonierte gerade und machte ihnen ein Zeichen, daß er gleich zur Verfügung stehen würde. Als er schließlich sein Gespräch beendet hatte, stand er auf und kam zu Cathryn und Patrick herüber. Er mußte um die Vierzig sein und litt an unvorstellbarem Übergewicht. Die dicke schlaffe Fettschicht wackelte bei jeder Bewegung, die er machte. Sein Gesicht bestand nur noch aus fetten Wangentaschen, Bartfransen und tiefen Fettfalten.
»Wir haben einen Dringlichkeitsfall«, erklärte Patrick. »Wir möchten sofort mit einem der Richter sprechen.«
»Vormundschaftsübertragung in einem Krankheitsfall, Mr. Murphy?« fragte der Gerichtssekretär mit einem wissenden Ton in der Stimme.
»Sehr richtig«, antwortete Patrick. »Die notwendigen Unterlagen sind bereits alle ausgefüllt.«
»Ich muß zugeben, daß Sie immer besser werden«, sagte der Sekretär. Er sah auf die große Uhr an der gegenüberliegenden Wand. »Mein Gott, diesmal sind Sie wirklich auf die letzte Minute gekommen. Es ist ja schon fast vier. Ich sehe lieber gleich nach, ob Richter Pelligrino überhaupt noch hier ist.«
Er watschelte zu einem Durchgang hinter dem Schalter. Seine Arme schlenkerten steif wie die Pendel einer Uhr hin und her.
»Drüsenkrank«, flüsterte Patrick. Er legte seinen Aktenkoffer auf den Schaltertisch und ließ ihn aufspringen.
Cathryn sah Patrick Murphy von der Seite an. Er trug die typische Anwaltskleidung, einen altmodisch weitgeschnittenen Nadelstreifenanzug, dessen Hosenbeine in den Kniekehlen zerknittert waren und bereits fünf Zentimeter über den Schuhen endeten, so daß man noch die schwarzen Socken über den Fußknöcheln sehen konnte. Mit größter Sorgfalt ordnete er die Dokumente, die Cathryn schon im Krankenhaus alle unterschrieben hatte.
»Glauben Sie, daß es wirklich richtig ist, was ich tue?« fragte Cathryn plötzlich.
»Absolut«, antwortete Patrick. Er lächelte sie warm und freundlich an. »Es ist das beste für das Kind.«
Fünf Minuten später waren sie im Richterzimmer, und zum Umkehren war es damit zu spät.
Genausowenig wie das Gerichtsgebäude Cathryns Vorstellungen entsprochen hatte, tat es auch Richter Louis Pelligrino. Statt einer ältlichen, in Amtstracht gewandeten, sokratischen Persönlichkeit saß sie einem auffallend schönen, jüngeren Mann in einem elegant geschnittenen Maßanzug gegenüber. Nachdem er sich eine moderne Lesebrille aufgesetzt hatte, ließ sich der Richter von Patrick die Schriftstücke reichen. »Mein Gott, Mr. Murphy. Wie kommt es, daß Sie immer erst Punkt vier hier erscheinen?«
»Medizinische Notfälle richten sich eher nach einer biologischen als nach der
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