Fieses Karma
Boden. Ich setze mich. Er setzt sich mir gegenüber, verschränkt die Beine und sieht mich so erwartungsvoll an, dass es mir superpeinlich ist. Doch schon bald merke ich, dass er nur darauf wartet, dass ich anfange zu reden.
Da Small Talk etwas ihm völlig Fremdes zu sein scheint, überspringe ich die üblichen höflichen Fragen über das Wetter, sein Befinden und wie es kommt, dass er hier in Napa Valley am Spirituellen Zentrum für inneres Wachstum arbeitet, und komme sofort zur Sache. »Wissen Sie, ich habe alles befolgt, was Sie gesagt haben. Ich habe schwer daran gearbeitet, mein Leben wieder ins Gleichgewicht zu bekommen und alles Negative auszulöschen, das mir in den letzten Monaten zugestoßen ist. Aber es hat nicht funktioniert.«
Jetzt sehe ich ihn genauso erwartungsvoll an, wie er mich eben, aber er blickt mich nur gelassen an – fast so, als wüsste er, dass an der Geschichte noch mehr dran ist.
Meine Hände zucken ein wenig, als ich sage: »Ich meine, zuerst hat es funktioniert. Ein bisschen. Jedenfalls dachte ich, dass es funktioniert. Aber dann ist alles wie ein Kartenhaus über mir eingestürzt, und jetzt sitze ich tiefer in der Tinte als vorher. Und ich möchte wissen, warum das so ist. Warum hat es bei mir nicht funktioniert? Sie haben doch gesagt, das Leben sei ein Balanceakt. Und ich habe balanciert. Und dann ist plötzlich alles total abgefuckt.«
Sobald mir das Wort entschlüpft ist, wird mir klar, dass er möglicherweise gar nicht weiß, was »abgefuckt« überhaupt bedeutet. Denn der Typ ist offensichtlich so eine Art Guru. Und ich werfe ihm Begriffe an den Kopf, die man gewöhnlich nur auf MTV hört. Also erkläre ich: »Sie wissen schon, aus dem Gleichgewicht.«
Er nickt, doch er schweigt immer noch. Ich sitze da und warte darauf, dass er mich irgendwas fragt. Egal was! Aber er tut es nicht. Die Stille kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Schließlich sagt er: »Wenn wir Geschichten immer von der Mitte an erzählen würden, wüssten wir das Happy End nie zu schätzen.«
Ich starre ihn mit offenem Mund an und bringe nur ein »Hä?« heraus.
Mit unendlich geduldigen Augen erwidert er: »Was ich meine, ist, dass du mir deine Geschichte von der Mitte an erzählst. Ich kann dir jedoch nicht helfen herauszufinden, warum alles so ›abgefuckt‹ ist, wie du es ausdrückst, solange ich den Anfang nicht kenne. Und ich fürchte, es ist ein Anfang, den du nicht so gern mit mir teilst.« Seine samtige, beruhigende Stimme klingt wie ein exotisches Lied mit einer wehmütigen Melodie, das mich nervös macht und zugleich irgendwie tröstet.
Er hat recht. Ich habe Angst, ihm zu erzählen, wie alles angefangen hat. Ich habe Angst, es überhaupt irgendjemandem zu erzählen. Denn bisher habe ich noch keiner Menschenseele etwas vom Karma-Klub erzählt. Und der einzige schriftliche Beweis, dass er existiert, befindet sich nun in den Händen von Jenna LeRoux. Daran lässt sich erkennen, dass ich nicht unbedingt scharf darauf bin, irgendwelche weiteren Informationen preiszugeben.
Während ich mitten in einem Raum, in dem die Leute in ihrem Inneren nach Lösungen suchen, auf der Matte sitze, wird mir klar, dass ich die Antwort, die ich suche, nur dann finde, wenn ich ihm alles erzähle. Nur wenn ich es laut ausspreche – von Anfang an. Denn es kann gut sein, dass ich es selbst hören muss.
Also hole ich tief Luft und lege los.
Ich fange am Anfang an und höre erst auf, als ich am Ende angelangt bin. Ich erspare ihm nichts. Ich lasse alles raus. Als ich fertig bin, bin ich so erleichtert, als wäre mir eine schwere Last von den Schultern genommen. Die ganze Geschichte auf einmal zu erzählen, wirkt wie eine Therapie. Denn erst jetzt wird mir klar, dass sich die Geschichte auf einmal erzählen lässt. In nur wenigen Minuten. Und wenn das der Fall ist, dann kann es gar nicht so schlimm sein. Ich hoffe, das bedeutet auch, dass sich genauso schnell eine Lösung finden lässt.
Ich warte, dass Rajiv etwas sagt. Ich weiß, er hat etwas Gutes für mich parat. Etwas, das er in den letzten zehn Minuten für sich behalten hat. Doch eine halbe Minute später sitzt er immer noch stumm da und sieht mich mit so einem bescheuerten Grinsen an. Schließlich frage ich: »Und?«
Er erwidert: »Und?« Doch er sagt es mit fester Stimme, als würde die Antwort auf der Hand liegen und als wäre er überrascht, dass ich sie nicht sehe.
Ich bin nicht sicher, was ich damit anfangen soll, also frage ich ihn: »Wollen Sie mir denn
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