Fillory - Die Zauberer
getragen von kissenartigen Massen leerer Luft, während sie ohne Gefühlsregung auf gewundene, schnörkelige, achterbahnartige Flüsse hinunterblickten. Falls es ein nächstes Mal gäbe, nahm er sich vor, die Nasca-Linien in Peru zu suchen. Er fragte sich, ob er zu Professor van der Weghe zurückkehren und sie bitten könnte, ihn zurückzuverwandeln. Dann würde er einfach diese Gestalt behalten, als dumme Gans leben und sterben und vergessen, dass er je ein Mensch gewesen war. Manchmal dachte er an den Tag, den er mit Alice zusammen auf dem Dach des Cottages verbracht hatte. Sie hatten sich einen Streich ausgedacht, den sie den anderen spielen wollten, aber diese kamen einfach nicht und er und Alice hatten den ganzen Nachmittag auf den warmen Ziegeln gelegen, hinauf in den Himmel geblickt und über alles und nichts geredet.
So zogen sich einige lange Tage hin. Seine Gesundheit verbesserte sich zusehends und er wurde unruhig. Sein Gehirn erwachte und er brauchte neue Anregungen, um es abzulenken. Es ließ ihn nicht lange in Ruhe.
Vorwärts und aufwärts. Quentins Rekonvaleszenz verlief unaufhaltsam. Bald verließ er sein Zimmer und erkundete die nähere Umgebung, ein wandelndes Skelett. Abgeschottet von seiner Vergangenheit und von allem und jedem Bekannten, fühlte er sich so körperlos und halb-existent wie ein Geist. Das Kloster – die Zentauren nannten es die Zuflucht – war von Steinkolonnaden, hohen Bäumen und breiten, gepflegten Wegen geprägt. Fast gegen seinen Willen fühlte sich Quentin ausgehungert, und obwohl die Zentauren strenge Vegetarier waren, entpuppten sie sich als wahre Zauberer, was Salate anging. Zu den Mahlzeiten servierten sie voluminöse, hoch gefüllte Holztröge mit Spinat, Kopfsalat, Rucola und pikanten Löwenzahnblättern, delikat mit Öl und Gewürzen angerichtet. Er entdeckte die Zentaurenbäder, sechs rechteckige Steinwasserbecken mit unterschiedlichen Temperaturen, jedes so lang, dass er mit drei Brustzügen von einem Ende zum anderen schwimmen konnte. Sie erinnerten ihn an die römischen Bäder im Haus von Alice’ Eltern. Tief waren sie auch: Wenn er hineinsprang und kräftig nach unten paddelte, bis das Licht schwächer wurde, sein Rautenhirn protestierte und der Druck ihn zwang, die Finger in die Ohren zu stecken, konnte er kaum erst mit den Händen den Boden berühren.
Sein Verstand war wie ein Eisweiher, der ständig zu tauen drohte. Er betrat ihn nur vorsichtig – die Oberfläche war gefährlich glatt und wer weiß wie dünn. Einzubrechen hätte bedeutet, in das einzutauchen, was sich unter der Eisdecke befand: kaltes, dunkles, sauerstoffarmes Wasser und angriffslustige Fische mit scharfen Zähnen. Die Fische waren die Erinnerungen. Er hätte sie gern irgendwo verstaut und anschließend vergessen, aber er schaffte es nicht. Das Eis gab in den unverhofftesten Momenten nach: als ein flauschiges, sprechendes Eichhörnchen ihn spöttisch ansah, eine Zentauren-Krankenschwester unerwartet freundlich zu ihm war, als er einen Blick auf sein Spiegelbild erhaschte. Dann erhob sich etwas Hässliches, Saurierähnliches an die Oberfläche, die Tränen traten ihm in die Augen und er gab sich den Schmerzen hin.
Seine Trauer um Alice entfaltete immer wieder neue Dimensionen, von deren Existenz er nichts geahnt hatte. Er hatte das Gefühl, als habe er sie nur in diesen letzten Stunden richtig erkannt und geliebt, wahrhaft und allumfassend geliebt. Doch jetzt war sie fort, zerbrochen wie das Glastier, das sie an jenem Tag gezaubert hatte, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren, und der Rest seines Lebens lag vor ihm wie ein ödes, bedeutungsloses Postskriptum.
In den ersten Wochen nach seinem Erwachen spürte Quentin noch immer starke Schmerzen in Brust und Schulter, doch sie ließen im Laufe der folgenden Wochen allmählich nach. Zuerst war er schockiert, dann aber immer stärker fasziniert gewesen, als er feststellte, dass die Zentauren das Haut- und Muskelgewebe, das ihm das Ungeheuer genommen hatte, durch etwas ersetzt hatten, das wie dunkles, feinkörniges Holz aussah. Zwei Drittel seines Schlüsselbeins und der größte Teil seiner rechten Schulter und des Bizeps schienen jetzt aus einem glatten, auf Hochglanz polierten Obstbaumholz zu bestehen – Kirschbaum vielleicht, oder Apfelbaum. Das neue Gewebe war absolut gefühllos – er konnte mit den Knöcheln darüberreiben, ohne etwas zu spüren –, aber er konnte es nach Belieben bewegen und biegen, wie und wann er es
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