Fillory - Die Zauberer
Subjekt angeglichen werden muss, so musste selbst der einfachste Zauberspruch verändert, geformt und flektiert werden, um ihn der Tageszeit, der Mondphase, der Absicht und dem Zweck sowie den genauen Umständen der Anwendung und noch hundert weiteren Faktoren anzupassen. Sie alle wurden tabellarisch in Büchern mit Tafeln, Karten und Diagrammen aufgeführt, gedruckt in mikroskopisch kleinen Schmuckbuchstaben auf riesige vergilbende Folioseiten. Dabei war jede Seite zur Hälfte mit Fußnoten gefüllt, die die Ausnahmen, Unregelmäßigkeiten und Sonderfälle behandelten. Welche natürlich ebenfalls alle auswendig gelernt werden mussten. Magie war wesentlich verzwickter, als Quentin gedacht hätte.
Aber noch etwas anderes gehörte dazu, etwas, das über das viele Lernen und Üben hinausging, das mit den doppelt gepunkteten ï s und den quer gestrichenen ŧ s nichts zu tun hatte und in den Vorlesungen von Professor March niemals zur Sprache kam. Quentin spürte es nur, ohne dass er es in Worte fassen konnte. Man brauchte noch etwas anderes, wenn eine Zauberformel irgendeinen Effekt auf die Umgebung haben sollte. Wann immer er versuchte, darüber nachzudenken, verlor er sich in Abstraktionen. Es war so etwas Ähnliches wie Willenskraft, eine gewisse Intensität der Konzentration, ein klarer Blick, vielleicht auch ein Hauch künstlerischen Feuers. Wenn ein Zauber wirken sollte, musste man es irgendwo aus dem Bauch heraus wollen.
Quentin konnte nicht erklären, warum, aber er spürte, wenn es funktionierte. Er fühlte, wenn seine Worte und Gesten mit dem geheimnisvollen magischen Substrat des Universums auf Tuchfühlung gingen. Er spürte es körperlich. Seine Fingerspitzen wurden warm und schienen Streifen in der Luft zu hinterlassen. Es entstand ein leichter Widerstand, als würde die Luft um ihn viskos und drücke gegen seine Finger, ja sogar seine Lippen und seine Zunge. Sein Kopf schwirrte wie in einem Koffein-Kokain-Sprudel. Er befand sich im Herzen eines weiten und mächtigen Systems, er war das Herz. Wenn es klappte, wusste er es. Und er liebte es.
Jetzt, wo seine Freunde aus dem Urlaub zurückgekehrt waren, saß Eliot beim Essen mit ihnen zusammen anstatt mit Quentin. Sie bildeten eine äußert auffällige Clique. Stets debattierten sie ernsthaft miteinander oder erlitten vor versammelter Mannschaft markerschütternde Lachkrämpfe. Sie waren bemerkenswert selbstgefällig und desinteressiert an der breiten Brakebills-Bevölkerung. Sie besaßen ein gewisses Etwas, sie wirkten lebendiger als die anderen Studierenden. Wobei sie weder attraktiver noch klüger waren. Sie schienen einfach zu wissen, wer sie waren, und blickten sich nicht ständig nach anderen um, als müssten die es ihnen sagen.
Es nagte an Quentin, dass Eliot ihn in dem Moment hatte fallen lassen, in dem er nicht mehr praktisch war, aber immerhin hatte er ja jetzt noch die anderen neunzehn Erstsemester. Obwohl sie keine wirklich gesellige Gruppe waren. Sie waren still und eifrig und pflegten einander abschätzig zu mustern, als wollten sie herausfinden, wer im Ernstfall ihr intellektueller Todfeind war. Sie trafen nicht sehr oft zusammen, waren immer höflich, aber selten warmherzig. Sie waren daran gewöhnt, sich mit anderen zu messen, und sie waren daran gewöhnt, zu gewinnen. Mit anderen Worten, sie waren wie Quentin, und Quentin war nicht daran gewöhnt, mit seinesgleichen zusammen zu sein.
Die einzige Studentin, für die er und jeder andere Erstsemester in Brakebills sich von Anfang an brennend interessierte, war die kleine Alice mit dem winzigen Glastierchen, aber schon bald stellte sich heraus, dass sie zwar akademisch gesehen wesentlich weiter war als alle anderen, dafür aber krankhaft schüchtern, so dass es kaum Sinn hatte, überhaupt mit ihr zu reden. Wenn man sie beim Essen ansprach, antwortete sie einsilbig und starrte auf das Tischtuch vor ihr, wie von einer grenzenlosen inneren Scham bedrückt. Sie war fast pathologisch unfähig, Augenkontakt zu halten, und die Art, in der sie ihr Gesicht hinter ihren Haaren verbarg, ließ erahnen, wie quälend es für sie war, zum Objekt menschlicher Aufmerksamkeit zu werden.
Quentin fragte sich, wer oder was jemanden mit so offensichtlich außergewöhnlichen Gaben dazu bewegt haben könnte, sich vor anderen Leuten zu fürchten. Er versuchte, ihr gegenüber seinen brennenden Ehrgeiz zu bewahren und sie als Konkurrentin zu sehen, aber sein Bedürfnis, sie zu beschützen, brachte das immer
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