Fingermanns Rache
nickte ihm zu. Schorten fuhr sich nervös übers Gesicht und leerte dann den Rest einer Mineralwasserflasche. Vermutlich war er noch betrunken. Auf was hatte sie sich da nur eingelassen?
Wenige Minuten zuvor hatte sie mit Kriminaldirektor Sandt gesprochen. Er missbilligte ihre Eigenmächtigkeit und hielt ihren Verdacht für sehr fragwürdig. Dennoch sicherte er ihr Verstärkung zu. Dies würde aber wegen des Chaos beim Kraftwerk Rummelsburg noch eine gewisse Zeit dauern. Zeit, die Marion nicht hatte.
Sie stellte das Radio an. »Alle Sender berichten über Arndt. Vielleicht erfahren wir so noch etwas Wichtiges«, sagte sie mehr zu sich selbst.
Auf Berlin on Air quasselte eine überdrehte Moderatorin vom Antihelden Wilbur Arndt und von etlichen Anhängern, die seinem anarchischen Ansatz folgen würden. Sie erzählte von der Unbesiegbarkeit des menschlichen Geistes und von Wiedergeburt. Sie schwadronierte über die Eleganz des Todes und Arndts gelungene Performance bei der Inszenierung desselbigen. Bei diesem Punkt angelangt, schlug sie einen Bogen zu den jüngsten Ereignissen im Kraftwerk. Wieder träfen Leben auf Tod, Gut auf Böse. Wieder schrieb Wilbur Arndt das Drehbuch, und wieder würde allein er entscheiden, worüber die Welt zu berichten hätte.
»Da wird eine Staatsanwältin Opfer brutalster Gewalt, und diese Göre macht Arndt zum Künstler! Haben denn alle den Verstand verloren?«, fluchte Schorten und zerdrückte die Kunststoffflasche, die er noch immer in den Händen hielt.
»Zumindest hat sie keine Ahnung, was im Kraftwerk geschehen ist. Genauso wenig, wie sie von Arndts neuen Plänen weiß. Das heißt: Er hat die Öffentlichkeit nicht informiert, noch ist er nicht so weit. Wenn wir also mit Tempelhof richtig liegen, dann können wir ihn zum ersten Mal überraschen, dann halten wir das Heft in der Hand.«
»Hoffentlich haben Sie recht«, sagte Schorten grimmig und drehte das Radio lauter. Die Moderatorin kündigte zum Jethro-Tull-Themenabend das Lied »Hymn 43« an. Marion überfuhr eine rote Ampel.
*
»Führungen mache ich schon lange keine mehr«, sagte der alte Mann kurzatmig. Er steckte in einer abgewetzten nachtblauen Fliegeruniform und zog sein rechtes Bein nach. »Die neuen Herren setzen mich nur noch als Nachtwächter ein.« Der Mann legte eine keuchende Pause ein. »Vermutlich, weil ich zu viel weiß.«
Dann zwängte er sich hinter das Steuer eines offenen Elektrofahrzeugs, das Platz für fünf Personen bot. »So ein Ding braucht man hier. Der Flughafen ist nach dem amerikanischen Pentagon flächenmäßig das größte Gebäude der Welt.«
Marion und Schorten setzten sich ebenfalls. Ihre Gesichter und ein Teil des gewaltigen Gebäudes wurden vom kalten Blau des Schriftzuges des verwaisten Abfertigungsbereichs erhellt:
T e m p e l h o f
Massive Treppentürme teilten in gleichen Abständen die gebogene Fassade des Flughafens und verloren sich im Dunkeln. Das Fahrzeug fuhr geräuschlos an.
»Sie wollen also in die unterirdischen Anlagen, dorthin, wo seit Monaten so modernes Zeugs installiert wird, wo irgendwelche Leute diese historische Stätte entweihen?«
Der alte Mann wandte sich Marion zu, auf seinem Namensschild stand »Captain Schmidt«. »Bin früher so gut wie selber geflogen«, sagte er, als er Marions fragenden Blick registrierte. »Hab die Maschinen entladen, damals, 1948, als die Russen uns den Saft abdrehen wollten. Aber mit uns nicht, mit uns nicht, das kann ich Ihnen sagen. Die Rosinenbomber sind im Neunzig-Sekunden-Takt gestartet und gelandet. Das war ein großartiger Lärm. Da sind dem Stalin die Ohren abgefallen. Damals haben wir alle zusammengehalten, und die Amis waren meine Freunde, die haben mich respektiert. Nicht wie die Rotzlöffel von heute. Diese nassforschen Büroclowns von der Betreibergesellschaft. Einen Blumenpark wollen die aus dem Gelände machen. Einen Blumenpark! Na, haben die noch alle beisammen?«
Captain Schmidt bog in eine stark abfallende Straße ein, die das Gebäude unterquerte. Der schlafende Flughafen verschluckte Fahrzeug und Menschen.
»Das ist der Lieferanteneingang, wenn Sie so wollen. Die unterirdischen Anlagen reichen drei Stockwerke in die Tiefe. Und sie sind weitaus verzweigter, als die Besserwisser behaupten.«
»Das ist doch nur ein Gerücht«, stellte Marion fest.
»Zum Gerücht ist es gemacht worden.«
»Und warum?«
»Na, weil es gefährlich ist.« Captain Schmidt beugte sich zu ihr herüber und senkte seine Stimme. »Sie
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