Fingermanns Rache
in ihre Zweitwohnung, von der modernen Küche, von den geheimen Urlauben, von einem versteckten Raum, den er nicht beschreiben wollte, nein, den er nicht beschreiben konnte. Genauso wenig, wie er der Erniedrigung, die ihm in diesem Raum widerfahren war, einen Namen geben konnte. Und immer wieder kam er auf den Beweis zu sprechen, der absichtlich platziert worden war, um Arndts Macht zu zeigen, seinen Einfluss, der nicht einmal vor dem Privatleben haltmachte. Dieser verdammte Obdachlose, der allen etwas vorspielte, der seit seinem Erscheinen ihre Geschicke bestimmte, ja, der anscheinend sogar den Tod überwinden konnte.
Marion versuchte ab und zu nachzuhaken, doch Schorten beachtete sie gar nicht. Sein Redefluss war nicht zu stoppen, alles musste gesagt werden, die ganze Verzweiflung musste raus, das Entsetzen über die eigene Hilflosigkeit, das Erkennen der unwürdigen Situation und die absurden Bemühungen, sich daraus zu befreien.
»Es ist ja nicht so, dass ich mir der Lächerlichkeit meiner Aufräumversuche nicht bewusst bin«, sagte Schorten. »Ich sehe genau, was zu tun ist. Aber sobald ich es in die Tat umsetzen will, versagt mein Verstand. Ich kann nicht aus meiner Haut. Ich kann ein Büro leiten, Mitarbeiter führen, aber ich kann keine verdammte Spülmaschine einräumen, die Waschmaschine bedienen. Anfangs wusste ich nicht einmal, wo der Kaffee steht.« Ein verunglücktes Lächeln huschte über Schortens Gesicht, dann starrte er aus dem Fenster.
Marion wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Ihre Gefühle schwankten zwischen Mitleid und Abneigung. »Hier ist es ziemlich ungemütlich. Können wir uns nicht woanders unterhalten?«, fragte sie unsicher.
Schorten rieb sich die Stirn. »Doch, sicher, das Musikzimmer. Da wartet ohnehin eine Überraschung auf Sie.«
Das Musikzimmer war ein im Dachstuhl geräumig ausgebautes Studio. Großflächige Fenster ermöglichten einen freien Blick auf den angrenzenden Park. Zwischen lackierten Holzbalken standen eine weiße Ledergarnitur und überdimensional große Lautsprecherboxen. Unzählige Porzellanfiguren, die alle im selben Winkel ausgerichtet waren, belagerten verchromte Regale und zeigten genau auf eine Art Altar, dessen Heiligtümer ein schwarzer Plattenspieler und sein massiver Verstärker waren. Selbst die Zimmerpflanzen ordneten sich diesem Winkel unter. Der Raum war steril und kalt. Eine künstliche stromlinienförmige Fassade, die den Blick auf das Wahre verstellte. Schorten, seiner Fassade beraubt, wirkte hier vollkommen deplatziert, dennoch zeigte sich in seinem müden Gesicht Besitzerstolz.
»Schön hier, nicht wahr?«
»Ja, sehr schön«, bestätigte Marion artig.
»Schauen Sie sich nur einmal die Hifi-Anlage an. Sie besteht ausschließlich aus hochwertigen Komponenten. Und der Plattenspieler ist ein absolutes Wunderwerk. Technisch auf dem neuesten Stand und aufgrund des ausgelagerten Motors resonanzoptimiert, das garantiert einen überragenden Klang. Ich werde Ihnen eine Platte vorspielen, dann können Sie sich Ihre eigene Meinung bilden.«
»Herr Schorten, eigentlich bin ich nicht gekommen, um Platten anzuhören, eigentlich sollte ich jetzt im Präsidium sein. Es wäre nett, wenn Sie mir gleich Ihre Entdeckung im Fall Arndt zeigen würden.«
»Aber die Platte ist doch die Entdeckung, warten Sie nur ab.«
Schorten forderte Marion auf, sich zu setzen. Widerwillig ließ sie sich auf dem weichen Ledersofa nieder. Schorten ging zu einem Wandschrank, der die ganze Seite zum Treppenhaus einnahm. Eine immense Plattensammlung verbarg sich darin.
»Kennen Sie Jethro Tull?«
»Nein. Klingt aber nicht nach Klassik.«
»Warum Klassik? Meinen Sie, ich höre nur Klassik? Ich bin ein ausgewiesener Anhänger und Kenner der Rock-und Jazzmusik aus den sechziger und siebziger Jahren. Sie haben wohl eine vorgefertigte Meinung von mir?«
Das hatte Marion tatsächlich, überspielte dies aber mit einem verlegenen Lächeln.
Schorten legte vorsichtig eine Platte auf und wählte das zehnte Lied. »Erkennen Sie es?«, fragte er nach den ersten Tönen.
Marion nickte. Sie hatte es auf dem Video, das Lokis Tod zeigte, gehört. »Und was wollen Sie mir damit sagen?«
»Dieses Lied, ›Locomotive Breath‹, ist die erfolgreichste Single von Jethro Tull und auf der LP ›Aqualung‹ zu finden. Eine LP , die 1971 veröffentlicht wurde. Aqualung ist der Name eines Obdachlosen, der auf dem Cover abgebildet ist.«
Schorten reichte Marion das Plattencover. Interessiert
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