Fingermanns Rache
machen. »Jetzt zählt jede Minute. Wir müssen Cordula schnellstmöglich finden. Ich habe Unterlagen über ihren vermeintlichen Lebenspartner, Thomas Bauer, mitgenommen. Vielleicht stoßen wir dort auf einen Anhaltspunkt.« Mit einem Ruck stand Schorten auf und strebte, sichtlich beschwingt, aus dem Zimmer.
Diesen Menschen habe ich einmal geachtet, dachte Marion und unterdrückte den Drang, einfach zu gehen, diese ganze Verlogenheit hinter sich zu lassen. Marion seufzte. In ihren Händen hielt sie noch immer das Plattencover. Wilbur Arndt starrte sie hinterhältig an. Seine linke Hand griff in die Innentasche seines Mantels, seine rechte lag am Revers und hielt den Mantel zu.
»Und was ist mit dir, was verbirgst du?«, fragte Marion. »Was hast du vor? Willst du dich größer machen, als du bist? Willst du deine Welt durch Selbstjustiz wieder in Ordnung bringen? Willst du es allen zeigen, um über deine armselige Existenz hinwegzutäuschen?«
Das Bild gab ihr keine Antwort. Marion wendete das Cover. Wilbur Arndt saß in einem Rinnstein, einen Hund an seiner Seite. Arndt wirkte erschöpft, sein Blick war mild. Ganz so ist es nicht, schien er zu sagen.
Schorten kehrte zurück. Er hatte sich umgezogen und ein Stück Würde zurückgewonnen. In seinen Händen hielt er mehrere Aktenordner.
»Das könnte interessant sein«, sagte er und setzte sich neben Marion. »Bauer ist Architekt. Er arbeitet häufig mit Eventagenturen zusammen und hat sich auf Umbau und Gestaltung von Industrieruinen und sonstigen ungewöhnlichen Orten spezialisiert.«
»Industrieruinen, das passt.« Marion studierte die Ordnerrücken. »Arndts großer Abgang hat in einem stillgelegten Kraftwerk stattgefunden. Sie hätten mich wirklich früher benachrichtigen sollen.«
»An besagtem Tag war ich nicht in der Lage, und danach waren Sie nicht zu erreichen«, entschuldigte sich Schorten.
»Jetzt kann man auch nichts mehr ändern«, entgegnete Marion und schlug den Ordner mit der aktuellen Jahreszahl auf. Bauers Arbeit wurde von einem Großprojekt beherrscht, das Marion an die Begegnung mit dem Krankenpfleger in Tromptow erinnerte. »Vergessen Sie den Flughafen Tempelhof nicht«, hatte er gesagt. »Es ist bestimmt Tempelhof.«
Bauer war tatsächlich an der Umgestaltung dieses Flughafens beteiligt. Fieberhaft überflog Marion die Unterlagen. Neben Angeboten, Listen, Bauplänen und Freihandskizzen stieß sie auf einen Vorschlag für einen Werbeflyer mit der Überschrift:
Erkenne dein eigenes Ich – werde der, der du bist.
Darunter eine Erläuterung:
Projekt Platon, eine einzigartige Kunstinstallation:
Gescannt und von einer hocheffektiven Software bewertet, finden Sie eine Gestalt an die Wand des Tunnels projiziert, die Ihrem Charakter entspricht und die jede Ihrer Bewegungen, einem überdimensionalen Schatten gleichend, in Echtzeit folgt. Werfen Sie einen unverstellten Blick auf sich selbst, entdecken Sie, wer Sie wirklich sind.
»Ziemlich großspurig«, sagte Marion. »Es klingt nach Arndt. Außerdem hat er in dem weitläufigen Flughafen alle Möglichkeiten. Ich glaube, wir haben ihn.«
»Kann schon sein«, entgegnete Schorten skeptisch. »Aber es gibt noch so viele andere Optionen. Bauer hat letztes Jahr zum Beispiel auch Bunkeranlagen umgebaut.«
Marion ging nicht auf Schortens Einwand ein und schlug einen Bauplan auf.
»Kennen Sie sich mit solchen Plänen aus?«, fragte sie.
Schorten nickte. »Den Ausbau des Dachgeschosses habe ich damals selbst geplant.«
»Dann suchen Sie nach einem Raum, in dem man eine Geisel verstecken kann.«
Schorten studierte den Plan und schüttelte den Kopf. Weitere Pläne folgten. Irgendwann tippte er mit dem Zeigefinger auf einen kleinen Raum. »Der wurde nachträglich mit einem WC versehen, und die Wände sind außergewöhnlich dick – vielleicht wegen einer besseren Schalldämmung. Außerdem liegt der Raum ziemlich abseits. Ich würde sagen: Das ist ein ideales Gefängnis.«
Tempelhof
Es hatte geregnet. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich auf dem Asphalt, bunte Neonreklame flog vorbei. Marion überholte einen Kleinlastwagen, ein entgegenkommendes Fahrzeug blendete auf. Schorten saß neben ihr und telefonierte mit der Berliner Immobilienmanagement GmbH, die Führungen auf dem Flughafengelände anbot – er hatte sich nicht davon abbringen lassen mitzukommen.
»Wir sollen uns beim Haupteingang einfinden. Dort wartet ein Angestellter«, sagte er gehetzt und verstaute sein Handy.
Marion
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