Fingermanns Rache
Verstand.«
»Aber dafür ist die Medizin doch da. Ich will nicht bei klarem Verstand sein, ich will vergessen.«
»Was wollen Sie vergessen?«
Arndt zog unbehaglich seine Schultern hoch und zerrte am Kragen seines Pullovers. »Ihre Fragerei geht mir verdammt auf die Nerven.«
»Sie haben ein Problem mit Ihrer Vergangenheit«, stellte Marion fest.
»Ich habe kein Problem mit meiner Vergangenheit, weil ich keine Vergangenheit habe.«
»Und die Geschichte mit Ihrem Finger?«
»Hab ich vergessen.«
»So ein Unsinn, so etwas vergisst man nicht.«
Arndt wandte den Kopf ab.
»Herr Arndt«, drängte Marion, »über manche Dinge muss man reden. Sie können sich mir ruhig anvertrauen.«
»Manche Dinge«, entgegnete er heiser, »bleiben besser unausgesprochen.«
»Ich glaube, Sie machen einen Fehler«, erwiderte Marion.
»Für Fehler seid ihr von der Polizei verantwortlich.« Arndt hatte seine Selbstsicherheit wiedergefunden. »Forschen Sie in meiner Vergangenheit, Sie werden schon sehen, was Sie davon haben.«
»Was immer Sie verheimlichen, ich werde es herausfinden. Es gibt so viele Ungereimtheiten: Warum sucht der Entführer zum Beispiel ausgerechnet Sie aus? Warum machen Sie aus Ihrem Vorleben ein Geheimnis? Oder, um konkreter zu werden: Sie schreiben, dass der Vater des Entführten tot ist. Wie können Sie das wissen, ohne den Entführten zu kennen? Ein Zufall kann das nicht sein.«
»Zufall oder nicht, das sagt uns das Licht.« Arndt verdrehte seine Augen und zog eine Grimasse.
»Herr Arndt, reißen Sie sich zusammen. Ich kann Sie auch wegen Behinderung der Ermittlungen drankriegen.«
»If you start your raving and your misbehaving – you’ll be sorry.« Während Arndt das sagte, stand er auf und zog eine Flöte aus seiner Manteltasche. Versonnen strich er über das matt schimmernde Holz, dann spielte er eine kurze Tonfolge.
Entgeistert starrte Marion ihn an. Lass dich nicht provozieren, dachte sie. Er legt es nur darauf an. Du musst ihn für dich gewinnen, fang ihn mit deinem Charme.
Sie zeigte ein bezauberndes Lächeln und sagte: »Sie machen es mir nicht gerade leicht, aber irgendwie sind Sie ganz originell. Und Ihr Flötenspiel klingt gar nicht schlecht.«
»Sie mögen meine Musik?« Überraschung spiegelte sich in Arndts Augen. Er führte die Flöte zum Mund und nahm das eben gespielte Thema wieder auf.
Marion lauschte verblüfft. Arndt konnte tatsächlich spielen. Die Melodie kam ihr bekannt vor. Melancholisch, nachdenklich war sie. Aber auch eingängig. Ein Stück für geschlossene Augen, ein Stück zum Träumen. Einen Moment lang rückte alles in weite Ferne, das Verhör, die Entführung, die Arbeit.
Unvermittelt brach Arndt ab. Beinahe verlegen verstaute er die Flöte und sagte: »Früher habe ich oft gespielt – auf einer Konzertflöte. Ich war richtig gut.«
Marion fand schnell in ihre Rolle zurück. »Früher?«
In Arndts Gesicht arbeitete es, seine Augen wanderten hin und her, bis sie plötzlich Marion fixierten. »Frau Tesic, Frau Tesic, Sie sind wirklich raffiniert. Das gefällt mir. Deshalb gebe ich Ihnen das hier zur Belohnung.« Arndt zauberte aus einer seiner Taschen einen Personalausweis hervor.
»Sie haben Bakker doch gesagt, Sie hätten keinen.«
»Bakker würde ich nicht einmal meine gebrauchte Unterhose anvertrauen.«
Marion betrachtete den Ausweis. »Wilbur Arndt. Geboren am 23. 07. 1953 in Ahlbeck, Staatsangehörigkeit deutsch. Das Ahlbeck auf Usedom?«
Arndt nickte.
»Kein fester Wohnsitz«, las Marion weiter. »Ausgestellt am 20. 06. 2000 in Berlin. Na, das ist ja mal ein Anfang.«
Arndts Blick verfinsterte sich. »Es ist gut, wenn man nicht alles weiß. Von mir erfahren Sie ab jetzt nichts mehr.«
»Und warum?«
»Weil ich mein Leben liebe.«
»Das soll ein Leben sein?« Marion zeigte auf Wilburs heruntergekommene Gestalt.
»Ich bin frei, ich kann tun, was ich will«, entgegnete er.
»Oh nein, Arndt. Sie sind nicht frei. Sie sind Sklave Ihrer Alkoholsucht. Sie machen sich da nur was vor.«
»Jeder sucht das Glück auf seine Weise, und ich bin glücklich.«
»Was soll das für ein Glück sein, das vom Alkoholpegel abhängt? Sie müssen aus dem Schlamassel raus, und ich kann Ihnen dabei helfen.«
»Ich brauche Ihre Hilfe nicht.« Arndt stand auf.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Während Marion Tesic sich meldete, bedeutete sie Arndt zu warten. Als sie das Gespräch beendet hatte, sagte sie: »Das war ein Kollege von der Direktion 3. Er hat mich
Weitere Kostenlose Bücher