Fingermanns Rache
an Hannes Drost von der Bahnhofsmission verwiesen. Der weiß einiges über Sie. Ich treffe ihn nachher.«
»Das ist schön für Sie.«
»Wollen Sie mir denn nicht weiterhelfen? Ich erfahre Ihre Geschichte doch so oder so.«
»Da bin ich mal gespannt. Ich für meinen Teil habe auf jeden Fall genug von dieser Entführung und dem Bohren in meiner Vergangenheit. Sie können alleine weitermachen.«
»Arndt, es geht um ein Menschenleben. Das Schicksal von Fabian Flaig kann Ihnen doch nicht vollkommen gleichgültig sein?«
»Überall auf der Welt sterben Menschen, um die kümmert sich auch keiner.«
»Sie wissen, dass das nicht das Gleiche ist. Bitte stehen Sie uns weiter zur Verfügung, ansonsten müssen wir Sie zwingen.«
»Zwingen kann mich keiner, das ist schon lang vorbei.«
Marion wusste, dass er recht hatte. Gegen ihn lag nichts vor. Arndt musste ihnen freiwillig helfen.
»Tun Sie es für mich, bitte.«
»Für Sie?« Arndt kratzte sich im Gesicht. »Wenn es Sie nicht gäbe, hätte ich Sie mir ausgedacht«, meinte er anerkennend. »Ich werde darüber nachdenken.«
*
Eine Station vor dem Hauptbahnhof stieg Marion aus und legte den Rest zu Fuß zurück. Für den Spaziergang war sie dankbar. Das Büro war ihr oft zu eng, gerade dann, wenn die Sonne sich zeigte. Einen Moment lang blieb sie stehen und reckte ihr Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen. Ihre Gedanken reisten an die Küste, sie sehnte sich nach dem Meer. Wann hatte sie zum letzten Mal ausgespannt, Urlaub gemacht? Wann hatte sie sich zum letzten Mal mit Freunden getroffen? Ihr Privatleben beschränkte sich auf Essen und Schlafen, sie ordnete alles ihrer Arbeit unter. Warum nur? War es die Stille in ihrer Wohnung, die Einsamkeit? Wohl schon. Als Single zog es sie nicht nach Hause, die Leere bedrückte sie. Ihre Versuche, eine Beziehung einzugehen, scheiterten immer kläglich. Ihr Anspruchsdenken war einfach zu hoch, und es wuchs mit jeder weiteren Enttäuschung. Dabei hatte sie Möglichkeiten genug, doch den Mann, den sie suchte, gab es wohl nicht. Vielleicht sollte sie ihre Einstellung mal überdenken, vielleicht sollte sie einfach mal loslassen, sich etwas gönnen. Denn eines war klar, wenn sie so weitermachte wie bisher, würde sich nie etwas ändern.
Eine Wolke schob sich vor die Sonne, und Marion setzte ihren Weg fort. Von der gegenüberliegenden Baustelle pfiff ihr ein Bauarbeiter nach. Marion drehte ihren Kopf leicht und schenkte ihm ein Lächeln. Nein, kein Lächeln. Vielmehr nur ein kurzes Aufflackern ihrer Augen, kaum wahrnehmbar und doch genug, um die Aufmerksamkeit der gesamten Baustelle auf sich zu ziehen. Nun gierten auch die restlichen Arbeiter nach einem Zeichen. Sie winkten, sie posierten. Der eine zeigte seine Muskeln, der andere machte eine unmissverständliche Geste. Marion ging unbeirrt weiter. Das war nicht, was sie suchte.
*
Hannes Drost räumte den kargen Speisesaal der Bahnhofsmission auf und beantwortete nebenbei Marions Fragen. Sein dünnes Haar hatte er zu einem Zopf zusammengebunden, und Resignation zeichnete sein schmales Gesicht.
»Wilbur verscherzt es sich mit jedem«, sagte er und wischte einen Tisch ab. »Außerdem ist er nicht daran interessiert, irgendetwas an seiner Situation zu ändern. Sein ganzer Lebensplan zielt darauf ab, sich zu Tode zu saufen.«
»Wissen Sie, was er vor der Obdachlosigkeit gemacht hat? Er scheint recht gebildet zu sein.«
»Wilbur hat studiert. So lauten zumindest die Gerüchte.«
»Ein Akademiker?«
»Ist nichts Ungewöhnliches. Unsere Kundschaft besteht fast zu zwanzig Prozent aus Akademikern, und alle zeichnen sich durch die gleichen Eigenschaften aus: hoch gebildet, keine Wohnung und psychisch krank.«
»Und von wem stammen die Gerüchte?«
»Man hört da so einiges. Aber am besten wenden Sie sich an Max, so ein kleiner, drahtiger Typ mit grauschwarzen Haaren. Der steht jeden Tag am Hackeschen Markt und verkauft den STRASSENRAND .«
»Max. Und wie weiter?«
»Max Dreiklang.«
»Ein schöner Name«, sagte Marion mehr zu sich selbst. »Können Sie mir sagen, was Herr Arndt vor seinem vermeintlichen Studium getan hat?«
Drost zuckte mit den Schultern. »Der Wilbur redet nicht viel über sich, zumindest nicht mit mir.«
»Wie bestreitet Herr Arndt seinen Lebensunterhalt?«
»Das Übliche. Er erhält Sozialhilfe. Einmal hatte er ein Jobangebot. Das war die Zeit, als man ihm die Sauferei kaum anmerkte. Er ist natürlich nicht erschienen. Prompt musste er acht Wochen ohne
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