Fingermanns Rache
man einen herrlichen Blick auf die Museumsinsel hatte, machte eine junge Frau mit extrem kurzen Haaren auf sich aufmerksam. Sie saß auf einem Verstärker und trug eine kurze schwarze Jacke mit hohem Pelzkragen. Während sie auf ihre E-Gitarre eindrosch und am Verstärker die Lautstärke regulierte, nickte sie Arndt zu, der sich mit seiner Kiste neben sie gesellte.
»Sieh an, Jeanne d’Arc von der Zeitungsredaktion«, bemerkte Marion.
»An besonderen Tagen unterstützt sie Wilbur«, erklärte Max.
»Und heute ist ein besonderer Tag?«
»Sieht ganz so aus.«
Marion und Max stellten sich in einigem Abstand zu den beiden auf. Bald kamen noch ein paar Neugierige, hauptsächlich Touristen, hinzu. Arndt mühte sich auf seine Kiste, und Jeanne d’Arc stellte abrupt ihr wildes Spiel ein.
»Thema heute«, rief Arndt, »›Der freie Wille ist eine Illusion.‹ Teil eins.«
Jeanne d’Arc spielte einen Tusch oder das, was sie dafür hielt. Arndt breitete seine Arme aus.
»Ich sage nur: Neurobiologie, Neurophysiologie, Neuropsychologie und CIA . AIDS war nur ein Versehen, ein Ausrutscher, der auf das wahre Arsenal hinweist. Die Katastrophe ist längst geschehen, wir alle sind Sklaven unserer Neuronen. Sie feuern und wir gehorchen. Hier, schaut es euch an.« Jetzt griff Arndt in seinen Rucksack und zog die Plastiktüte mit dem Schweinekopf-Bild heraus. Aus der Naht der Tüte tropfte Blut.
»Das Scheißding ist undicht«, fluchte Arndt und entnahm eine rosagraue Masse, die er eingehend betrachtete. »Das menschliche Gehirn, ungefähr tausenddreihundert Gramm schwer, bestehend aus Milliarden von Neuronen, ist unser Chef. Und unser Chef ist ferngesteuert!« Arndt hielt das Hirn hoch, Blut lief in seinen Ärmel, Jeanne d’Arc spielte einen weiteren Tusch, und der Kreis um die beiden wurde dichter.
»Der kalifornische Neuropsychologe Benjamin Libet hat festgestellt, dass jeder bewussten Entscheidung ein Befehl im Gehirn vorauseilt. Das heißt: Wenn ich mich bewusst entscheide, zum Beispiel meinen linken Arm zu heben, dann war der Befehl dazu schon längst vorbereitet. Das heißt wiederum: Unser Wille gleicht einem Hahn, der glaubt, die Sonne gehe auf, weil er kräht. Oder, wie es der Herr Professor Wolfgang Prinz vom Max-Planck-Institut sagt: Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.«
Jeanne d’Arc hämmerte nun wie wild auf ihrer Gitarre herum, und Arndt drehte sich um die eigene Achse. Einige Zuschauer wandten sich kopfschüttelnd ab, andere feuerten die beiden an. Arndt bot mit ausholender Geste seiner Musikerin Einhalt, dabei wäre er fast von der Kiste gestürzt.
»Jetzt müssen wir uns fragen: Woher kommen die Befehle in unserem Gehirn?« Jeanne d’Arc spielte einen hohen Ton, den sie lange hielt.
»Die Antwort lautet: elektromagnetische Schwingungen. Subtile Beeinflussung der Neuronen von außen. Wir alle sind Sklaven der unsichtbaren Strahlen. Und die Strahlungsdichte nimmt täglich, nein, stündlich zu. Überall sind sie, diese Strommasten, Antennen und Satelliten. Mit jedem Tag nimmt die Macht des Gestalters zu, mit jedem Tag verlieren wir ein Stück Freiheit. Und wenn ihr Beweise wollt, dann schaut nur nach Amerika, dort findet ihr den lebenden Beweis des ferngesteuerten Menschen: Präsident George W. Bush.«
»Aber der ist doch längst abgewählt«, warf jemand ein.
»Das ist nur die offizielle Version«, entgegnete Arndt, während Jeanne d’Arc die verzerrte Hymne der USA anstimmte. Arndt führte seine Hand zum Herzen und sang voller Inbrunst mit. Max und andere klatschten Beifall, während einige Touristen, offensichtlich Amerikaner, nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten. In diesem Moment begann es zu regnen.
Schwere Tropfen trieben die Menschen zu den nächsten Unterständen. Marion folgte gezwungenermaßen Jeanne d’Arc, da sie sich bereit erklärt hatte, den Verstärker zu tragen, der immer noch mit der Gitarre verbunden war. Max Dreiklang rollte hastig die Kabeltrommel auf und versuchte mit Jeanne d’Arc Schritt zu halten. Nur Arndt ließ sich von der Hektik nicht anstecken und blieb zurück.
Die drei fanden unter der Markise eines Cafés Schutz. Marion spähte zum Himmel. Sie hatte die dunklen Gewitterwolken, die nun die Sonne verdeckten, nicht kommen sehen. Ein Blitz zuckte, und der Regen wurde so dicht, dass man kaum zum Ufer der Spree sehen konnte. Nervös hielt Marion nach Arndt Ausschau. Sie hatte ihn doch nicht verloren?
Minuten verstrichen, die
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