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Fingermanns Rache

Fingermanns Rache

Titel: Fingermanns Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Weiglein
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Stuhl unter der Markise und spielte Flöte. Als Marion sich verabschiedete, schaute er nicht auf.
    Der Regen wollte nicht enden. Marion schob sich an der Hauswand entlang, dennoch wurde sie bis auf die Knochen nass. Das Regencape bot keinen Schutz, es schien eher die Feuchtigkeit unter dem Stoff zu konservieren. Marion dachte an Arndt, sein Vortrag ging ihr nicht aus dem Sinn. Sie kannte die Wissenschaftler, die er zitiert hatte. Zwischen all seine Verschwörungstheorien hatte er immer wieder Tatsachen eingestreut. Der Versuch des Neuropsychologen Benjamin Libet hatte im Strafrecht eine rege Diskussion angeregt. Libet hatte Testpersonen angewiesen, ihren Arm zu einem von ihnen selbst bestimmten Zeitpunkt anzuheben. Bevor sie die Handlung ausübten, sollten sie diese ankündigen. Hierbei wurde ihr Gehirn mittels Kernspintomograf überwacht. Bei allen Probanden wurde festgestellt, dass vor dem bewussten Befehl die für die Bewegung zuständige Region im Gehirn tätig wurde. Die Schlussfolgerung aus diesem Experiment lautete: Das Gehirn handelt, bevor der Mensch entscheidet. Der menschliche Wille existiert also nicht, oder, wie Arndt so schön sagte: »Unser Wille gleicht einem Hahn, der glaubt, die Sonne gehe auf, weil er kräht.«
    Dieser Umstand war für das Strafrecht entscheidend, da Verurteilungen auf Schuld basierten, und wo der Wille zur Tat nicht vorhanden war, gab es keine Schuld. Man handelte so, wie man handelte, weil es keine andere Möglichkeit gab. Man müsste also ein neues Rechtssystem etablieren, das nicht auf Schuld und Verantwortung basierte, das den Begriff Strafe nicht kannte.
    Diese Vorstellung widerstrebte Marion zutiefst. Musste man dann jeden Verbrecher als Opfer behandeln? Sollten Gefängnisse einen möglichst angenehmen Aufenthalt garantieren? Und was hätte das für Konsequenzen im alltäglichen Leben? Durfte man nun ein Kind nicht mehr maßregeln, weil es tat, was es tun musste?
    Was sollte das für eine Welt sein, in der es keinen Handlungsspielraum gab, in der eine höhere Instanz das gesamte Leben bestimmte? Eine Welt, in der das Drehbuch längst geschrieben war, in der jeder seine ihm zugewiesene Rolle erfüllte, egal ob gut oder böse? Marion lehnte diese Gedankengänge entschieden ab, da konnte die Wissenschaft entdecken, was sie wollte. Denn eines stand fest: Die Freiheit des Willens zeichnete den Menschen aus.
    Marion blieb vor einem Schaufenster stehen, in dem eine defekte Neonröhre flackerte. Sie betrachtete ihr Spiegelbild, das mit jedem Aufleuchten der Lampe verschwand. Die Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht, Arndts Regencape klebte an ihrem Körper. Die letzten Tage hatte Arndt einen großen Teil ihres Lebens bestimmt, und jetzt brachte er sie sogar dazu, von ihm gekaufte Kleidung zu tragen. Was für ein Spiel spielte er mit ihr? Wie nahe lagen Manipulation und der Verlust der Willensfreiheit zusammen?
    *
    Das LKA -Dienstgebäude war wie ausgestorben. Außer der Spätschicht waren schon alle zu Hause. Marion machte in ihrem Büro die Schreibtischlampe an und ließ die Jalousien hinunter. Dann zog sie das Regencape aus. Ihre weiße Bluse war vollkommen durchnässt, durch den dünnen Stoff schimmerte ihre Haut. Marion nahm ein Handtuch und trocknete sich die Haare. Ein Geräusch ließ sie herumfahren. In der Tür stand Bakker.
    »Na, das ist ein Anblick«, sagte er und schloss die Tür hinter sich, dabei stieß er gegen den Papierkorb. Er war sichtlich betrunken. »Willst du dich bei Miss Wet T-Shirt bewerben?«
    Marion hielt sich das Handtuch vor die Brust und sagte: »Bakker, ich glaube, du solltest besser nach Hause gehen.«
    »Warum denn? Jetzt, wo es gerade gemütlich wird.« Bakker zog seine Jacke aus und wankte auf Marion zu.
    Marion wich zurück, bis sie die Wand im Rücken spürte.
    »War kein guter Tag für dich heute«, sagte sie.
    »Nein, das war wirklich kein guter Tag.« Bakker blieb stehen und ließ die Schultern hängen. »Bernhard – oder soll ich ihn jetzt Herr Schorten nennen? – hat mich richtig fertiggemacht. Ich dachte, er sei mein Freund. Seit wir auf der Polizeihochschule waren, haben wir zusammengearbeitet. Erst auf gleicher Stufe, dann wurde er mein Chef. War kein Problem für mich, Bernhard war schon immer der Beste. Für ihn habe ich die Drecksarbeit gemacht. Wenn er beim Verhör mit den üblichen Mitteln nichts erreicht hat, hat er mich geholt. Bei mir haben sie alle gesprochen. Jeder hat so seine Qualitäten. Auch wenn es draußen hart auf

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